Anerkennung und Gebenwollen
„Der Mensch ist zwar ein vom Habenwollen geprägtes Geschöpf, und es gibt keine Wirtschaftstheorie, die dies nicht unter ihre Axiome rechnet, doch ist er immer auch als ein von Grund auf anteilnehmendes Wesen zu denken, dessen affektives Repertoire durch Empathie, Stolz, Generosität und Gebenwollen mitbestimmt ist.“ Was Peter Sloterdijk hier in seiner Schrift „Die nehmende Hand und die gebende Seite“ (21) schreibt, fasst zusammen, dass der Mensch in seinem durch Anerkennung geprägten und erst möglich gemachten Selbstsein nie auf das Sollen zum Gebenwollen verzichten kann, wenn er vollumfänglich anerkannt sein will. Aber ist das auch zutreffend? Ist es zutreffend, dass der Mensch im Gebenwollen ein Anerkanntwerden anstreben kann und das vielleicht sogar von gesellschaftlichem Wert sein könnte? Und, so ist weiter zu fragen, ist dieses Gebenwollen in Hinblick auf die Anerkennung konstitutiv für den gesellschaftlichen Zusammenhalt? Schließlich: Kann das Gebenwollen gegenüber dem Habenwollen über den Schlüssel des menschlichen Strebens nach Anerkennung die Oberhand gewinnen?
Sloterdijk selbst führt die unbedingte Behauptung des Gebenwollens als nicht zu leugnenden Bestandteil der menschlichen Natur deshalb ins Feld, weil er eine Anthropologie für armselig befindet, die dieses in Abrede stellt und den Menschen nur als habenwollendes Wesen sieht. Es ist gerade der Freiheitsaspekt, die nicht vorhandene Prädestination in der menschlichen Natur, wodurch dem Menschen immer wieder die Wahl zwischen dem Geben und dem Nehmen, die Wahl der Bedeutungszuschreibung zwischen beiden Aspekten seiner Natur gelassen bleibt. Wer nun behauptet, der Mensch habe diese Wahl nicht respektive der Mensch würde sich auch bei einer solchen Wahl immer für das Nehmen entscheiden, der leugnet damit nicht nur die menschliche Natur, sondern der leugnet auch die Existenzzusammenhänge des Menschen. Der Mensch existiert in jeder Lebensform in Zusammenhängen; selbst dann, wenn er sich für die Existenz als Eremit entscheidet. Denn auch der Eremit ist zuletzt noch auf die Anerkennung angewiesen – auf die durch die Mitmenschen, die ihn physisch am Leben erhalten und metaphysisch auf die Anerkennung durch Gott, dem er in die eremitische Existenz gefolgt ist.
Bei Sloterdijk klingt die Kritik an dem Kleindenken des Menschen wie folgt: „Wer Menschen kleindenkt, bekommt früher oder später zu sehen, was er dachte. Das niedere Denken ist ein sich selbst verwirklichendes autogenes Training der Kläglichkeit.“ (a.a.O., 43). Die Unterstellung, der Mensch würde dort, wo ihm die Wahl zwischen Geben und Nehmen gelassen wird, immer und zwangsläufig das Nehmen wählen, führt also laut Sloterdijk dazu, dass gesellschaftliche Strukturen entstehen, die den Zwang zum Geben zur Notwendigkeit gemacht haben, weil die Etablierung einer Kultur des Nehmens den Wert des Gebenwollens auf Null gesetzt hat. Gebenwollen stiftet kaum noch Anerkennung. Insbesondere der Sozialstaat mit allen Systemen der sozialen Sicherung hat wesentlich dazu beigetragen, dass Gebenwollen, das per se freiwillig geschieht, zu einer Seltenheit geworden ist und das Nehmen mehr Anerkennung erfährt, als das Geben. Nur wer der Meinung ist, dass künftige sozialstaatliche Umverteilung auf der Grundlage legitimen Diebstahls durch Steuern auf Leistungsträger und damit auf eine Erwirtschaftung des umzuverteilenden Vermögens verzichten kann, wird an dieser Entwicklung nichts auszusetzen haben.
Die Motivation für das Gebenwollen funktioniert gemäß der von Hobbes abgeleiteten Darstellung von Christoph Fehige, der ihr den Namen „Empathie a priori“ gab, nach folgendem Muster: „Du leidest → (Wahrnehmung) → Ich sehe dich leiden → (Resonanz) → Ich leide auch, nämlich mit.“ Fehige schreibt dazu: „Da jeder einen Grund hat, gegen sein eigenes Leid anzugehen, und mein Leid wie skizziert auf deines zurückgeht, gilt: Ich habe einen Grund, gegen dein Leid anzugehen.“ (Soll ich?, 12). Die logische Fundierung dieses Musters, die Fehige vorzüglich leistet, kann für den die Anerkennung schaffenden Aspekt des Gebenwollens außen vor gelassen werden. Wichtig dafür ist in der Darstellung von Fehige, dass er wie auch Sloterdijk dem Menschen ausreichend Empathie zuschreibt, um dem Gebenwollen vor dem Habenwollen den Vorzug zu geben. Die Anerkennung, die ein Gebenwollen schaffen kann, resultiert aus dieser Empathie unmittelbar, sie wird aufgrund der Empathie, die dem Geben vorausgeht, gegeben. Oder anders. Der Gebende wird nicht aufgrund der Gabe an sich anerkannt, sondern aufgrund ihrer empathischen Motivation.
Diese kann zugegebenermaßen unterstellt sein. Es muss nicht der Fall sein, dass ein Mensch sein Gebenwollen aus dem „Ich sehe dich leiden“ ableitet. Möglicherweise ist seine Motivation auch die, dass er den Eindruck von Empathie erwecken und dafür anerkannt werden möchte. Trotzdem wird er dann aufgrund der Empathie anerkannt – auch wenn diese nur zugeschrieben ist. Denn würde er zugeben, dass er sich mit seiner Gabe Anerkennung kaufen will, könnte er nicht darauf hoffen, diese auch zu erhalten. Anerkennung ist nicht käuflich, weil sie nicht nach Maßstäben des Wettbewerbs funktioniert, sondern von sozialen Friktionen abhängig ist. Sie wird dem Selbst für sein Selbstsein zuerkannt und nicht für etwas, was dieses sich zuschreibt.
Deshalb, so stellt es Birger P. Priddat in seinem Aufsatz „Wozu reich sein?“ in der Kulturzeitschrift „Lettre International“ fest, kalkulierten diejenigen, die sich heute noch in größerem Umfang mit dem Gebenwollen Anerkennung verschaffen wollten, sehr genau, wie viel sie ausgeben müssten, um welche Anerkennung zu erreichen. Wörtlich heißt es bei ihm: „Indem Reiche stiften, fordern sie eine moderne Reziprozität. Sie wollen dafür, dass sie geben, unmittelbar etwas wiederbekommen: soziale Reputation, mediale Präsenz als Aufmerksamkeit“. (a.a.O., 113). Dass dies so ist, daran habe der Staat maßgeblichen Anteil, so Priddat. „Die soziale Funktion des Reichtums wird durch staatlichen Zwang geregelt; deshalb wird die freiwillige, private schwächer.“ (ebenda).
Der moderne Staat, das ist der Steuerstaat, und dieser folgt immer noch feudalistischen Prinzipien. In diesem Steuerstaat ist der Bürger nicht mehr als Bürger anerkannt; als Steuerzahler erfährt er keine Anerkennung mehr als Gebender, sondern nur noch als Schuldner. Bei Sloterdijk heißt es dazu in einer Abwandlung des Carl-Schmitt-Wortes, dass souverän sei, wer über den Ausnahmezustand entscheide: „Alle Gewalt geht vom Fiskus aus. Weil souverän ist, wer über die Zwangsvollstreckung entscheidet – also über den Ernstfall der Steuerschuld gegenüber dem Staat –, ist der Fiskus der wahre Souverän der modernen Gesellschaft.“ (a.a.O., 24). Notwendig ist dann auch das Maß des Gebenwollens auf ein Minimum reduziert. Schon allein in materieller Hinsicht bleibt wenig Spielraum, weitere Anerkennung durch ein Gebenwollen zu erreichen. Bei rund sechzigprozentiger Belastung des Monatseinkommens der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland sind es dann tatsächlich nur noch die Reichen und Superreichen, die finanziellen Spielraum für ein Gebenwollen haben, das die Anerkennung des Selbst steigert und das auch für die Gesellschaft einen Profit darstellt.
Die Grenzen der Anerkennung liegen hier dort, wo der Staat sie mit seinem Steuersystem gezogen hat. Das war nicht immer so. „Die Polis ehrt ihre Stifter.“, (Priddat, a.a.O.) war vom antiken Griechenland bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts gängiges Leitmotiv des Umgangs von Staat und Gesellschaft mit denen, die dem Gebenwollen im großen Maßstab den Vorrang vor dem Habenwollen gaben. Schließlich profitierten alle Bürger gleichermaßen von diesem Gebenwollen. Erst die Französische Revolution machte diesem selbstverständlichen Umgang mit der leistungstragenden Elite durch das Märchen von „Alle Menschen sind gleich“ ein blutiges Ende. Fortan musste der Staat mehr und mehr selbst die Lücke füllen, die von der durch gesellschaftliche Gleichschaltung verdrängten Elite gelassen wurde und jeneFunktion der gesellschaftlichen Konstitution, die zuvor das Gebenwollen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt erfüllt hatte, selbst übernehmen.
Wenn sich das wieder ändern soll – die zunehmenden Ausweise der Schwäche des Sozialstaates, der viele der von ihm bekämpften Probleme erst durch seine Existenz geschaffen hat, sprechen dafür, dass sich das wieder ändern muss –, dann kann das nur geschehen, indem dem Gebenwollen wieder mehr Anerkennung geschenkt wird. Hierzu ist es unbedingt notwendig, dass dem Bürger die Souveränität über die von ihm gezahlten Steuern gegeben wird. Sloterdijk fordert ganz zu Recht mehr demokratische Mitsprache der Bürger bei der Verwendung des ihnen durch den Fiskus zwanghaft in Form von Steuern entwendeten Geldes. Das kann jedoch nur ein denkbares Ergebnis sein. Das Ideal, was bei einer auf die Schaffung von mehr Anerkennung des Gebenwollens gerichteten Reform des Steuerwesens zu erreichen wäre, ist dies: dass der Bürger vollumfänglich und im besten demokratischen Sinne darüber entscheidet – und das immer wieder neu – wofür seine Steuergelder verwendet werden und wie viel Steuern er überhaupt zahlt und wie viel seines monatlich erwirtschafteten Einkommens er stattdessen in Bürgerstiftungen oder ähnliches investiert. Denn wenn das Volk schon den Karren zieht – nichts anderes heißt Δημοκρατία –, dann soll es auch darüber entscheiden dürfen, wohin es diesen zieht; und das immer und in allen Angelegenheiten.
Es wurde deutlich gezeigt, dass es nicht der Mensch ist, der auf dem Weg, dieses Ideal zu erreichen, das Hindernis ist. Es ist die Angst vor dem Besitzstandverlust der fiskalstaatlichen Beamtenschar und des in ihrem Sinne regierenden politischen Personals, die nicht nur den Weg zu diesem Ideal blockiert, sondern die gleich das Ideal als unmöglich zu erreichendes und gar als legale Möglichkeit der Steuerflucht verfemt. Wer jedoch auf die menschliche Empathie und auf das Streben des Menschen nach Anerkennung vertraut, der ist auf einem guten Weg, dieses Ideal zu erreichen. Grund zu der Annahme, der Mensch sei ein Wesen, das der Anerkennung nicht bedürfe, besteht nicht einmal im Ansatz. Sie, die Anerkennung, kann der Schlüssel zu einer Gesellschaft sein, die mit einem Höchstmaß an Verantwortlichkeit die Wohlfahrt aller ihrer Angehöriger gleichermaßen fördert. Nur wenn das Gebenwollen wieder in dem Maße Bedeutung und Anerkennung gelangt, wie das vor der Französischen Revolution der Fall war, kann auch langfristig der gesellschaftliche Zusammenhalt in den europäischen Staaten gesichert werden. Dieser Anerkennung geht die Anerkennung von Geld und Reichtum notwendig voraus. Es ist kein Verbrechen, Geld zu machen und reich zu sein.
Die Philosophin Ayn Rand lässt in ihrem brillanten Roman „Atlas Shrugged“ den Unternehmer Francisco D'Anconia in einem Gespräch mit dem Stahl-Magnaten Hank Rearden folgendes über Geld sagen: „Der Mensch, der Geld verurteilt, hat es unehrenhaft erlangt. Der Mensch, der es respektiert, hat es sich verdient. Geld ist nicht das Werkzeug der Schmarotzer, die Anspruch auf Ihre Produkte erheben, indem sie Tränen vergießen, oder das der Plünderer, die es Ihnen mit Gewalt entreißen. Geld wird ausschließlich durch die Menschen ermöglicht, die etwas produzieren.“ (Übersetzung durch Autor). Leider sind wir in Deutschland heute in einer Situation, in der genau das zutrifft, was Ayn Rand ihre Figur Francisco D'Anconia als Schreckensvision an die Wand malen lässt. Geld wird verurteilt und nicht respektiert und es ist zu einem Werkzeug von Schmarotzern und Plünderern geworden. Die Tatsache, dass Geld nur durch die Menschen ermöglicht wird, die etwas produzieren, ist in den Rang der Mystik entrückt worden. Schließlich kommt Strom aus der Steckdose und das Geld aus dem Bankautomaten. Wer das anders sieht und gar der Meinung ist, dass es sich lohnt, für Geld zu arbeiten und nicht einem ewigen Urlaub zu frönen, der muss sich dafür fast schon entschuldigen. Diese Meinung ist gefährlich, denn sie birgt ein hohes soziales Sprengpotential. Am Ende könnte jene soziale Kälte stehen, vor der die heutigen Erben der Französischen Revolution stets warnen. Es wäre dann allerdings der Sozialstaat mit seiner Verächtlichmachung des Gebenwollens und des Geldmachens, der sie verursacht hätte.
Bibliographie
Fehige, Christoph (2004): Soll ich?, Philipp Reclam jun., Stuttgart
Priddat, Birger P. (2012): Wozu reich sein?, in: Lettre International Nr. 98
Rand, Ayn 2007 (1957): Atlas Shrugged, Penguin Books, UK
Sloterdijk, Peter (2010): Die nehmende Hand und die gebende Seite, Beiträge zu einer Debatte über die demokratische Neubegründung von Steuern, Suhrkamp Verlag, Berlin