Auszug Magisterarbeit
Das Wesen der Wirklichkeit
und
die Reise zum Menschen
Zur Fiktionsstruktur und zur Entwicklung einer Philosophie
in Robert Müllers Roman Tropen
(…) Das Denken wird zum Gewaltakt; es ist kein gewöhnliches Denken, sondern ein Denken, das etwas bewegt, ein Denken, das die Realität verändert; es erschafft eine „Dimension, in der das Physische sich transzendental äußert.“ (S. 195) (…)
Noch einmal verdeutlicht Brandlberger die Reisestruktur – die Reise hinab oder rückwärts zu den Anfängen ist gleichzeitig auf einer höheren geistigen Ebene eine Reise hinauf oder vorwärts auf eine höhere Ebene des Daseins. (…)
Der expressionistische Roman ‚Tropen’, zu Recht als eines der bedeutendsten Werke des literarischen Expressionismus bezeichnet, vereint in sich sämtliche stilistischen Merkmale expressionistischer Literatur sowie die beiden Grundtendenzen Ich-Dissoziation und messianischer Expressionismus. Überdies entwickelt er innerhalb und durch seine unauflösbar komplexe Struktur eine ‚Philosophie’, die den Menschen über sich selbst erheben soll, die ihn aus seiner Ohnmacht zur Allmacht hebt. Die Würde ist es, die der Mensch zurück erlangen soll; diese ist bei Schiller Ausdruck einer erhabenen Gesinnung, und Erhabenheit wiederum, im Begriffe Kants und Schillers, ist das Gefühl eines übersinnlichen Vermögens in uns und zugleich der Ausgang aus der sinnlichen Welt; im Grunde werden die Welt und das menschliche Schicksal unter den Willen des Geistes gezwungen. Ähnlich verhält es sich mit Brandlbergers die Wirklichkeit transzendierender Philosophie, die in der sogenannten „Fünften Dimension“ eine Möglichkeit sieht, Wirklichkeit durch Denken zu erschaffen.
Der Autor Robert Müller, Aktivist und Expressionist, „ein Meister kämpfender Denkprosa“[1], Mitstreiter gegen die „Impotenz der Humanitätsidee“[2], Verfechter von Utopien, ein „im Zickzack“ laufender „unverfolglicher Windhund“, „sein eigener Trick“[3] und nach zeitgenössischen Aussagen in vieler Hinsicht ein Phänomen, bleibt rätselhaft wie seine Werke, die doch gleichzeitig den Schlüssel zu seinem mysteriösen Leben und Sterben geben zu wollen scheinen. Im Dunkeln liegt zum Beispiel die Zeit von 1909 bis 1911: Verbrachte Robert Müller diese Zeit als Cowboy und Seemann in Amerika? Oder in einer Nervenheilanstalt? Wollte er sich selbst zum Mythos stilisieren? Oder haben wir hier Müllers Amerika-Reise als ein „Phantoplasma“ entlarvt, innerhalb dessen sie ‚real’ ist, sowie den Roman ‚Tropen’ als Teil und Abbild des Lebens seines Autors, das es wiederspiegelt wie ein Zerrspiegel; das es vorweg nimmt und ‚erklärt’?
Ernst Bloch stellt in „Geist der Utopie“ die Forderung, das Leben als Kunstwerk zu gestalten und so Unsterblichkeit zu erlangen. Das Leben Robert Müllers lässt sich durchaus als Kunstwerk betrachten. Verschlungen und verschlüsselt wie sein Werk, gewaltsam beendet wie das Leben seiner Romanfiguren, schreibt es seine eigene „Tragikomödie“. Der „unheilbare Dichter“ Robert Müller erzählt sie dem Leser vorweg – „Sie liegt fix und fertig vor ihm da.“ (S. 402)