Beispiel: Kurzgeschichte

DA SCHRAUBST DUEin nervtötendes Detail dieses Tages muss ich mal in aller Ausführlichkeit erfassen. Um mich zu beruhigen. Meiner Lesebrille fehlt am linken Bügel eine Schraube. Die Schraube habe ich noch. Das repariere ich selbst, sage ich mir selbstbewusst und löse das Klebeband, mit dem ich den Bügel an die Brille geklebt hatte. Damit ich die Brille noch notdürftig nutzen kann. Trotzdem rutscht sie immer vom Kopf, und ich muss das Klebeband immer wieder neu verkleben. Dabei ist das linke Brillenglas bereits bis zur Undurchsichtigkeit verschliert. Es muss also was passieren. Oder ich kaufe mir einfach bei TIGER für 4,99€ eine neue. Die gehen aber auch spätestens nach 3 Wochen an der gleichen Stelle kaputt. Das ist eine gewollte Sollbruchstelle.Die Reparatur-Aufgabe lautet also: mit der minimalinvasiven Schraube den völlig verdreckten linken Bügel geschickt mit den Brillengläsern und dem anderen Bügel zu verbinden. Ohne dabei die Brille aufzuhaben. Das ist einfach. Ich nehme Muttis Leselupe in den Mund. Das ist eine sehr große Lupe mit Batterien im Griff für die integrierte Lampe. Das schaffe ich kaum. So ein dicker Griff. Ich muss mit der Zunge die Lupe zusätzlich nach oben drücken, damit sie im idealen Winkel ist zwischen meinen erblindenden Augen und der zu reparierenden Brille in meinen etwas zittrigen Händen. Das grenzt schon an Zungen-Yoga. Aber ohne Lupe kann ich die Schraube nicht erkennen.Bei der oralen Verrenkung im Innenraum meines Mundes verrutscht meine Zahnprothese von hinten rechts unten in Richtung Speiseröhre. Und ich denke mir gleich Szenarien aus, wie es ist, wenn ich jetzt meine Prothese, die drei Zähne überbrückt, verschlucke. Ist das Teil groß genug, dass sie mir die Luftröhre blockieren könnte? Und ich ohne Brille und ohne fremde Hilfe einen Luftröhrenrettungsschnitt mit einem von Muttis stumpfen Küchenmessern setzen muss? Zum Glück habe ich die aspetischen einzelverpackten Strohhalme von McDonalds schon gesehen. Denn so einen Halm müsste ich dann durch den Schnitt in die Luftröhre einbauen. Habe ich alles schon im Fernsehen gesehen, und ich bin mir sicher bei youtube gibt es Anwendungsfilme. Aber ich habe hier kein Internet ...Völlig abwegig so ein Szenario wird der vernünftige Leser spätestens jetzt denken. Ha, ist es aber nicht. Beweis: Mutti füttert aus Gewohnheit einen von Angelas drei Zierhunden besonders gerne. Es ist Cimba. Das ist der mit dem schon blutenden Krebsgeschwür am Maul. Wahrscheinlich aus Mitleid und immer im Bewusstsein, es könnte seine Henkersmahlzeit sein, gibt sie ihm Brot und manchmal auch Obst. Vor kurzem hat er sich an einem zu harten Birnenstück derart verschluckt, dass er umgehend vom Hundearzt notoperiert werden musste. Und mit Ach und Krach vor dem vorzeitigen Ableben gerettet werden konnte. Das kostete 300€ und Mutti musste zahlen, weil keine Versicherung zahlen wollte. Ich fand es gerecht.Mit der Leselupe klappt das nicht so richtig gut. Also suche ich Muttis Lesebrille. Finde aber nur 32 leere APOLLO-Brillen-Etuis und keine einzige Brille.Also Prothese raus und Leselupe wieder in den Mund. So geht es vielleicht. Aber ich brauche einen kleinen Schraubendreher. Den habe ich nicht und finde auch keinen in Muttis voll gerümpelter Werkzeug-Küchenschublade. Ich finde eine Nagelfeile. Das sollte auch gehen. Geht aber nicht. Man braucht heute für jeden Scheiß Spezialwerkzeug. Da könnte ich ausflippen. Also muss ich mit der Brille, die vom Klebeband völlig verdreckt ist zum APOLLO Optiker, der im in-shop-Konzept bei Karstadt untergebracht ist.Ich stehe dort mit meiner sexy LSD-Golferhose der Loudmouthmarke aus Bangkok und meinen orangenen Fahrradtaschen. Die Ray Ban cool auf der Nase und warte an der Bedienstation. Herr Fischer, der APOLLO Optiker bedient gerade. Das Ehepaar streitet sich dann über irgendein Brillendetail. Er nutzt die Pause und fragt nach meinem Begehr. Mir ist es etwas unangenehm ihm nun die verschmutzen Einzelteile meiner APOLLO-Brille anzuvertrauen. Er aber ist Profi. Und holt aus der Schublade einen dieser kleinen Schraubendreher und fummelt in Null-Komma-Garnichts alles wieder zusammen. Ohne auf den Verschmutzungsgrad einzugehen, legt er sie für 90 Sekunden in eine ionisierende Spezialdampflösung und hebt dann meine Brille aus dem APOLLO-Taufbecken. Die ist nun wie neugeboren. Geschrieben in Fehlhabers Gasthof in Amelinghausen von 13:58 bis 15:21 am 12.6.17 bei Spargel und Stauder Pils