Biographie und bildende Kunst

  1. Die Biographie in der bildenden Kunst

Der Begriff Biographie leitet sich vom Griechischen ab und setzt sich zusammen aus bios, gleichbedeutend mit Leben und graphie, was im engsten Sinne „schreiben“[1] bedeutet, aber auch „ritzen, eingraben“[2].

Erstellt von AusdruckmachtEindruck vor 9 Jahren
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Nimmt man diese Bedeutung wörtlich, so ist die Biographie ein bildnerischer Ausdruck im Leben. Das Material dieses Ausdrucks sind Ereignisse und andere Menschen, die Leinwand oder das Papier der Mensch selbst und seine Erinnerungen.

Kleinkinder beginnen nach Forschungsergebnissen sehr viel eher zu zeichnen als sie zu schreiben lernen. Dabei ist zu unterscheiden, dass hier das Zeichnen im weiteren Sinne und in seiner evolutionären Urform gemeint ist, nämlich durch das Nutzen von natürlichen und sich anbietenden Materialien wie Brei, Staub, Lehm im Gegensatz zu einem Zeichnen im engeren Sinne mit dem klassischen Schreibwerkzeug - Feder und Tusche oder Bleistift. Aus den freien Bewegungen des Zeichnens werden nach und nach Imitationen von Formen, die ausgefüllt werden wollen. So entwickelt sich spielerisch das Malen. Es scheint also ein Grundbedürfnis nach Ausdruck in jedem Menschen von jeher vorhanden zu sein.[3]

Der Künstler Joseph Beuys formte wie kaum ein zweiter das Bewusstsein dafür, dass jeder Mensch ein künstlerisches Potential hat und dass dieses Potential in Verbindung mit der persönlichen Biographie eine nahezu transformierende Wirkung haben kann.[4] Der persönliche künstlerische Selbstausdruck vermag offenbar mehr als nur Abbilder des Innen-oder Außenlebens zu schaffen. Mit Außenleben ist hier gemeint: die Umwelt, das Materielle, die sichtbare Welt. Das Innen dagegen sind die Emotionen, die Erinnerungen, die psychologische Konstitution. Es schein also möglich zu sein, das Innen-oder Außenleben mittels eines künstlerischen Ausdrucks zu beeinflussen. Und noch mehr: der kreative Akt vermag einen inneren Prozess anzustoßen. Hierzu sollen nun im Folgenden diesbezügliche Thesen untersucht und belegt werden.

2. 1. Die Entwicklung der Biographieforschung

Die Geburtsstunde der für sich stehenden Biographie und ihrer Forschungslehre wird Mitte des 18.Jahrhunderts angesiedelt. Die Biographieforschung entwickelte sich seither im direkten Austausch mit Literaturwissenschaft, Philosophie, Historiographie und Pädagogik. Es waren, neben den Pädagogen Christian Trapp und August Hermann Niemeyer, allen voran Autoren wie Johann Wolfgang von Goethe und Jean-Jacques Rousseau, die mit Entwicklungs- und Erziehungsromanen wie „Emile“ auf die Notwendigkeit der Biographieforschung hinwiesen[5].

In den 20er Jahren den 20.Jahrhunderts untersuchten unter anderem Charlotte Bühler und Siegfried Bernfeld den Gegenstand der Biographie und erkannten ihn als maßgebliche für die pädagogische Psychologie und Jugendforschung. Ebenso prägte sich in dieser Zeit der Begriff der Autobiographie. Eine weitere wichtige Blütezeit erlebte die Biographieforschung in den 70er Jahren des 20.Jahrhunderts, diesmal vermehrt im Bereich Schul-und Sozialpädagogik sowie in der Erwachsenenbildung.[6]

Ab Mitte der 1980er Jahre stieg die Zahl der Forschungsprojekte im Bereich Biographie um ein vielfaches an. Marotzki unterscheidet dabei zwischen drei grundlegenden Richtungen: Zum einen die „biographisch orientierte historische Erziehungs-, Sozialisations- und Wissenschaftsforschung“ [7] - hier wird die Kindheitsgeschichte m Wandel der Historie, vornehmlich während der NS-Zeit, der DDR-Zeit und verschiedenen sozio-politisch relevanten Epochen untersucht. Zum anderen „Studien zu Kinder-, Jugend- und Studentenbiographien“ [8] – hierbei werden Studien zu sozialen Einflüssen von Schule, Familie, Umgebung sowie Entwicklungsstadien und Reifungsprozesse nach Altersgruppe erhoben. Dabei kann allgemein festgestellt werden, dass in der persönlichen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen der Altersfaktor in seiner Bedeutung weit unter dem sozialen Faktor steht. Und schließlich „Studien, die sich mit biographischen Problemstellungen in verschiedenen erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen beschäftigen“[9] – dieser Unterpunkt umfasst alle sonstigen fächerübergreifenden, also fachlich hybriden Forschungsprojekte.[10]

2.2. Verschiedene Definitionen der Biographie im Vergleich

Biographie kann allgemein als individuelle Lebensgeschichte definiert werden, die den äußeren Lebenslauf, seine historischen, gesellschaftlichen Bedingungen und Ereignisse einerseits und die innere psychische Entwicklung des Subjekts andererseits in ihrer wechselseitigen Verwobenheit darstellt[11]

So die Definition von Peter Alheit. Theodor Schulze bemisst die Grundlage des Biographie Begriffs folgendermaßen: „Jeder Mensch lebt eine Lebensgeschichte und jeder, der der Sprache mächtig ist, kann sie erzählen“[12] . Die mündliche Formulierung und Überlieferung von Biographie geht bis auf die Anfänge der menschlichen Evolution zurück. Doch das Aufschreiben, Übermitteln und Herauslösen aus dem intimen Kontext hin zu einer öffentlichen Rezeption fand erst in der Neuzeit statt. Wörtlich handelt es sich in dieser Neuerung um eine „Biographie als Text“[13]. Schulze verweist auf den Umstand, dass durch das Niederschreiben eine narrative Umkehrung stattfindet: es wird rückblickend berichtet, obwohl das tatsächliche Leben vorwärts verläuft und eventuell noch große Wendepunkte bereithält. Und so betont Schulze: „Das menschliche Leben ist in erster Linie ein Prozess und dieser Prozess ist im Wesentlichen ein Lernprozess“[14] .

Dabei spielen genetische Veranlagung, sozialer Hintergrund, familiäre Konstellation und nicht zuletzt auch die Bildung des Charakters und die persönlichen Entscheidungen eine maßgebliche Rolle. Jedes Ereignis zählt und jede Erfahrung birgt ein Lernpotential, die Biographie ist somit nach Schulze ein „sich selbst organisierender Prozess“[15] und hat einen äußeren und einen inneren Verlauf, den man verfolgen kann. Der äußere Prozess sind zeitliche Markierungen, Einschnitte und Wendepunkte, die man anhand von Daten und Fakten bemisst. Man kann einen Tag, eine Stunde, eine Sekunde im Leben eines Menschen als Momentaufnahme herausnehmen oder aber man vollzieht die großen Bewegungen nach, die sich in Jahre, Jahrzehnte und Lebensabschnitte einteilen lassen. So wird Biographie zur „Bewegung des Lebens“[16], wie es das Wort Lebenslauf bereits evoziert. Ein Leben ließe sich demnach auf verschiedenste Arten als Diagramm nachzeichnen, etwa mit einer Zeitachse und einer entsprechenden Ereignis-Achse. Der innere Prozess nach Schulze dagegen sieht Biographie als „Erfahrungszusammenhang“[17] und bemisst die persönliche Entwicklung nach Eindrücken, Wahrnehmungen und Erkenntnissen.

Schulze betont, dass die Biographie stets subjektiv ist und auf dem Konstrukt eines „Selbst“[18] und dessen Selbstwahrnehmung sowie der Fremdwahrnehmung des Selbst durch einen anderen und deren Wechselwirkung beruht.[19]

2.3. Biographie und Identität

Werner Loch bezieht sich bei seiner Definition der Biographie auf den pränatalen Moment: zunächst einmal ist das neue Leben versorgt und geschützt. Danach kommt der Schock der Abnabelung bei der Geburt. Der Säugling ist plötzlich ein eigenes Lebewesen, aus der Symbiose mit der Mutter gerissen und unfähig, seine Bedürfnisse allein zu stillen. Das Kind muss mitunter schreien, um Aufmerksamkeit zu erregen und seine Bedürfnisse zu befriedigen. So beginnt das Leben bereits mit mächtigen Lernaufgaben, die zunächst ein innerer Prozess sind, bald aber auch mit dem ersten Greifen, Krabbeln, Aufrichten und Gehen enorme physische Anstrengungen verlangen. Ähnlich wie bei einer ausgewogenen Mutter-Kind-Beziehung, bei der die Mutter hilft, solange es nötig ist und zugleich das Kind sich selbständig entwickeln lässt, formuliert Loch das Ideal einer pädagogischen Lernhilfe, die nur solange unterstützt, solange sie nötig ist. Loch betont, dass die Imitation das Grundprinzip des Lernens ist. So sieht Loch die jeweiligen Systeme, die den Menschen in seiner Entwicklung begleiten als Lernhilfen und „Identifikationshilfe“[20]. Durch die Familie lernt das Kind eine Struktur kennen, an die es anknüpfen kann, die Schule und alle pädagogischen Einrichtungen sind „Orientierungshilfen“[21]. Die Biographie ist dabei die Bewusstmachung der Lernprozesse und Strukturen, innerhalb derer man aufgewachsen ist, die Imitation, die man zunächst vollzog und das allmähliche Kreieren einer eigenen Identität, das Schaffen des Selbst und der Entwicklung der Kompetenzen[22].

Jutta Ecarius beschreibt Lochs Definition der Identität als einen permanenten Bildungsprozess und Grundbaustein zur Entwicklung der Identität. Dabei bleibe bei Loch der Fokus allerdings auf normativen Orientierungen verhaftet und das subjektive Bedürfnis weitgehend unbeachtet. Ecarius betont das Lernpotential durch biographisches Erzählen. Erzählt man eine Anekdote wiederholt, so können sich hier Entwicklungen widerspiegeln, Perspektivwechsel, ein übergeordneter Blick, beiläufige abweichende Kommentare verraten Reflexionen, Erkenntnisse und Reifeprozesse. Da sich der Erzählenden permanent weiterentwickelt, verändert sich auch die Erzählung. Biographie, Persönlichkeitsentwicklung und Identität sind somit direkt miteinander verbunden. So kann sich etwa im Wechsel vom Kind zum Jugendlichen der Schwerpunkt einer erzählten Anekdote verschieben. Dabei liegt Ecarius Augenmerk auf der persönlichen Entwicklung und der damit verbundenen Identitätsfindung. Generell ist daraus ersichtlich, dass die Identität sich über die Biographie definiert.[23]

So ist es auch erklärbar, dass Menschen nach dem totalen Verlust ihres Gedächtnisses sich der eigenen Familie entfremden und neue Charakterzüge entwickeln. Die Erinnerung ist ein maßgeblicher Faktor mittels dem das Konstrukt des Selbst sich erhält. Das Subjekt erzählt sich wieder und wieder dieselbe Geschichte – denn was sonst ist eine Erinnerung als eine Geschichte, aus verschiedenen Perspektiven erzählbar– und hält so seine Identität aufrecht. Biographie ist für Ecarius somit subjektiv und zeichnet die inneren Bewegungen eines Individuums in der Art eines Seismographen auf. [24]

(…)

7. Literaturverzeichnis

Alheit, Peter: Biographizität als Projekt. Der „biographische Ansatz“ in der Erwachsenenbildung. Bremen: Universitätsverlag 1990

Ecarius, Jutta: Biographieforschung und Lernen. In: Krüger, Heinz-Hermann / Marotzki, Winfried (Hrsg.): Handbuch erziehungswissenschaftliche Biographieforschung. 2. Aufl. Wiesbaden: Kindle 2006

John-Winde, Helga / Roth-Bojazhiev, Gertrud: Kinder Jugendliche Erwachsene zeichnen. Hohengehren: Schneider 1993

Krüger, Heinz-Hermann / Marotzki, Winfried (Hrsg.): Handbuch erziehungswissenschaftliche Biographieforschung. 2. Aufl. Wiesbaden: Kindle 2006

Peez, Georg: Einführung in die Kunstpädagogik. 2. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer 2005

Schulz, Nina: Das zeichnerische Talent am Ende der Kindheit: ein empirischer Vergleich zwischen dem Selbstbild und dem Fremdbildern von Peers, Eltern, Lehrern und Künstlern. Münster: Waxmann 2007

Stachelhaus, Heiner: Joseph Beuys. 3. Auflage. Düsseldorf: Econ & List 1998

(…)

[1] Georg Peez: Einführung in die Kunstpädagogik. 2. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer 2005, S .50

[2] Ebd.

[3] Vgl. ebd.

[4] Vgl. Heiner Stachelhaus: Joseph Beuys. 3. Auflage. Düsseldorf: Econ & List 1998, S. 26

[5] Vgl. Marotzki, , S. 14 f.

[6] Vgl. ebd., S. 15 f.

[7] Ebd., S. 17

[8] Ebd., S. 19

[9] Ebd., S. 17

[10] Vgl. ebd.

[11] Peter Alheit: Biographizität als Projekt. Der „biographische Ansatz“ in der Erwachsenenbildung. Bremen: Universitätsverlag 1990, S. 405

[12] Schulze, 2006, S. 39

[13] Ebd.

[14] Ebd.

[15] Ebd.

[16] Ebd.

[17] Ebd., S. 40

[18] Ebd.

[19] Vgl. ebd., S. 39 f.

[20] Loch, 2006, S. 81

[21] Ebd.

[22] Vgl. ebd., S. 82 f.

[23] Vgl. Ecarius, 2006, S. 97 f.

[24] Vgl. ebd.

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