Das Selbstwertgefühl
Die Stabilität und Höhe des Selbstwertgefühles steht in Beziehung mit vielen (mal-) adaptiven Verhaltensweisen sowie dem psychischen Wohlbefinden. So konnten Kernis, Grannemann und Barclay (1989) sowie Papps und O'Caroll (1998) nachweisen, dass ein instabiler hoher Selbstwert die größten dispositionalen Anzeichen des Erlebens von Wut und Feindseligkeit aufwies, wobei ein stabiler hoher Selbstwert mit den geringsten Tendenzen zu diesem Erleben einherging.
Ein instabiles Selbstwertgefühl scheint auch - gerade unter Stress - ein guter Prädiktor für paranoide Symptome zu sein (Kesting, Bredenpohl, Klenke, Westermann & Lincoln, 2013; Thewissen et al., 2007). Zudem steht ein niedriger Selbstwert, sowohl bei Heranwachsenden als auch bei Erwachsenen, in Verbindung mit Suizidgedanken (Marcenko, Fishman & Friedman, 1999; Overholser, Adams, Lehnert & Brinkman, 1995; Reinherz, Tanner, Berger, Beardslee & Fitzmaurice, 2006; Rizwan & Ahmad, 2010). Baumeister et al. (2003) konnten in einer Metaanalyse zeigen, dass ein niedriger Selbstwert einen Risikofaktor für Essstörungen darstellt sowie die weitläufige Annahme widerlegen, dass Personen mit einem hohen Selbstwertgefühl tatsächlich beliebter sind als andere. Zudem besteht nach ihnen empirische Evidenz dafür, dass psychisches Wohlbefinden und ein hohes Selbstwertgefühl miteinander im Einklang stehen.
Zu Beginn der wachsenden Forschungsaktivitäten zum Selbstwertgefühl während der 1970er-Jahre (Baumeister et al., 2003) wurde das Selbstwertgefühl als eindimensionales Konstrukt angesehen und durch Selbstbeurteilungen erfasst. Die geläufigste Form zur Erfassung des allgemeinen Selbstwertgefühls ist die Rosenberg Self-Esteem Scale (RSES; Rosenberg, 1965), die heutzutage bei der Messung des expliziten Selbstwertgefühles Anwendung findet (vgl. 2.2.1). Mit fortschreitendem Forschungsinteresse wurde diese Annahme jedoch zugunsten der Sicht des Selbstwertgefühles als Eigenschaftshierarchie aufgegeben, nach der sich das allgemeine Selbstwertgefühl aus verschiedenen, bereichsspezifischen Selbstwertgefühlen zusammensetzt (Shavelson, Hubner & Stanton, 1976). Nach Kanning (2000, S. 39) ist somit „anzunehmen, daß [sic!] sich ein jeder Selbstwert auf einem Kontinuum von sehr globalen bis hin zu sehr spezifischen Bewertungen der eigenen Person bewegt.“ Das globale Selbstwertgefühl besteht nach Tafarodi und Swann (1995, 2001) aus zwei interdependenten, jedoch eigenständigen Domänen, der self-competence und dem self-liking. Letzteres stellt die eigene Bewertung aus dem Blickwinkel einer Art moralischen Instanz dar und beinhaltet die Zustimmung oder Ablehnung der eigenen Person auf Basis internalisierter sozialer Werte. Die andere Domäne hingegen bezieht sich auf die wahrgenommene Erfahrung des Selbst als fähigem Handelnden und schließt Bewertungsbereiche wie Intelligenz und Dominanz mit ein.
Je allgemeiner das Selbstwertgefühl untersucht wird, desto niedriger ist seine Aussagekraft. Der Einbezug des impliziten und expliziten Selbstwertgefühles ermöglicht hingegen eine differenzierte Betrachtung.
Implizites Selbstwertgefühl
(...) Die oftmals vertretene Auffassung, dass das implizite das Pendant zum expliziten Selbstwertgefühl darstellt und somit vollkommen unbewusste Bewertungen vornimmt (z. B. Dijksterhuis, 2004; Pelham et al., 2005; Petersen et al., 2006; Zeigler-Hill & Terry, 2007), darf angezweifelt werden. Zwar ist es möglich, dass der implizite Selbstwert auch unbewusste Prozesse mit einschließt, das Konzept der Automatizität jedoch scheint der impliziten Selbstwertbeurteilung gerechter zu werden. Letzteres ist breiter angelegt und erfüllt, wenn eine der Bedingungen für gesteuerte Prozesse nicht gegeben ist. Eine dieser Voraussetzungen ist die Bewusstheit, weitere sind Intention, Effizienz und Kontrolle (Bargh, 1994). In Abschnitt 2.4 wird näher auf die unterschiedliche Systemarbeit von explizitem und implizitem Selbstwert eingegangen.
Das implizite Selbstwertgefühl entwickelt sich schon in frühster Kindheit durch die Interaktion mit der Hauptfürsorgeperson (Bowlby, 1982; DeHart, Pelham & Tennen, 2006). Bedrohliche Informationen aus den ersten Beziehungserfahrungen werden selektiv aus dem Bewusstsein ausgeklammert, bestehen jedoch auf einer impliziten Ebene weiter fort: “He [Bowlby] concluded that an individual may report a certain conscious attitude, while holding a contrasting attitude at a deeper, less conscious level of information processing.“ (Vater et al., 2013, S. 38)
Dem impliziten Selbstwertgefühl wird eine wichtige „Puffer“-Funktion beim Schutz vor selbstwertbedrohlichen Erfahrungen, wie z. B. dem Scheitern oder der Ablehnung, zugeschrieben. So zeigten sich Individuen mit niedrigem implizitem Selbstwertgefühl ängstlicher während eines selbstwertbedrohlichen Interviews, als Personen mit hohem implizitem Selbstwert (Spalding & Hardin, 1999). Dieses hohe implizite Selbstwertgefühl scheint Menschen davor zu bewahren, maladaptive Strategien (z. B. Fremdgruppenabwertung, Vorurteile und Selbsttäuschung) anwenden zu müssen, um ihr Selbstwertgefühl aufrecht zu erhalten bzw. nach Misserfolgserlebnissen wieder herzustellen (Dijksterhuis, 2004).
Für die Erfassung des impliziten Selbstwertgefühles stehen verschiedene Messverfahren zur Verfügung. Bislang konnte jedoch lediglich für zwei Instrumente - den Name Letter Test (NLT; Nuttin, 1985) und den Implicit Association Test (IAT; Greenwald et al., 1998) - eine zufriedenstellende Validität und Reliabilität festgestellt werden (Bosson et al., 2000). Im folgenden Abschnitt wird auf die Problematik eingegangen, die mit der Messung des impliziten Selbstwertes einhergeht sowie zusätzlich ein kurzer Überblick über weitere Messinstrumente gegeben.
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