Das Unendliche bei Hans-Georg Gadamer
1: Einführung
2: Endlichkeit
2.1: Geschichtlichkeit
2.1.1: Wahrheit in der Geschichte
2.1.2: Geschichtlichkeit und Endlichkeit
2.1.3: Horizontverschmelzung
2.2: Kunst und Religion
2.3: Grenzen der Endlichkeit
3: Sprache
3.1: Mensch und Sache
3.1.1: Das Wort
3.1.2: Das Gespräch
3.2: Die ontologischen Aspekte der Sprache
4: Das Unendliche
4.1: Di Cesare und Barbarić
4.1.1: Das unendliche Gespräch
4.1.2: Die Grenze zum Unsagbaren
4.2: Die Welt als onto-hermeneutisches Konzept
4.2.1: Welt
4.2.2: Welt und das Unendliche
5: Fazit
Literatur- und Siglenverzeichnis
1: Einführung
Gadamer vollendet sein philosophisches Projekt mit dem Versuch, die Hermeneutik zur Ontologie zu erheben. Damit verbunden ist der Universalitätsanspruch der Hermeneutik. Das bedeutet, dass alles in ihren den Bereich fällt, alles der hermeneutischen Dynamik von Auslegung, Teilhabe, Verstehen, etc. unterworfen ist. Als Ontologie hat die Hermeneutik dann aber auch einen ontologischen Universalitätsanspruch. Es muss dann mit ontologischer Betonung heißen: Alles ist innerhalb der Dynamik der Hermeneutik.
Allerdings tauchen am Rande seiner Ausführungen Probleme auf. So sehr Gadamer plausibel machen kann, wie man Kunst, Geschichte, andere Menschen, etc. verstehen kann, rekurriert er an einigen Stellen doch auf etwas Rätselbares: das Unendliche. Es taucht wörtlich kaum in Wahrheit und Methode und dem Ergänzungsband auf, und Gadamer entwickelt auch keinen Begriff davon. Dennoch ist es keine Nebensächlichkeit. Allein die Erwähnung macht fraglich, wie denn das Unendliche mit Gadamers Philosophie, die stets auf den Rückbezug zum endlichen Dasein bemüht ist, vermittelt werden kann.
Was ist das Unendliche, und wie schafft es Gadamer, Endlichkeit und die Unendlichkeit miteinander zu vermitteln? Diese Fragen müssen beantwortet werden, da Gadamers Projekt ansonsten nicht haltbar wäre. Es muss geklärt werden, wie die Endlichkeit und das Unendliche in Beziehung stehen, denn unbegründet kann eine Philosophie kaum auf beidem basieren.
Die Frage nach dem Unendlichen ist zunächst schwierig zu stellen. Der Text Gadamers gibt kaum Anhaltspunkte und es erscheint kaum sinnvoll, sich auf ein rein exegetisches Unterfangen zu versteifen. Es bleibt also nur die Frage, was das Unendliche möglicherweise sein könnte – und ob es das in Gadamers Philosophie gibt. Zu Beginn steht also eine ontologische Frage einem bestimmten philosophischen System gegenüber.
Ohne hinreichende Textgrundlage muss die ontologische Frage nach dem Unendlichen von Grund auf geklärt werden, d. h. es müssen zunächst die Möglichkeiten des ontologischen Fragens bei Gadamer beleuchtet werden. Dieser philosophische Ausgangspunkt ist bei Gadamer die Endlichkeit. Sie zu analysieren ist Aufgabe von Kapitel 2 dieser Arbeit.
Von der Grundlage der Endlichkeit aus muss ein Weg gefunden werden, über den einzelnen Menschen hinaus ontologisch zu fragen. Es soll nach dem Unendlichen unter der Prämisse, dass es nicht vollends vom einzelnen Menschen abhängt, gesucht werden. Diesen Weg bietet im Rahmen von Gadamers Philosophie die Sprache. Diese wird in Kapitel 3 behandelt.
Nach der Diskussion über die notwendige Grundlage für eine Analyse des Unendlichen und dem systematischen Schritt über sie hinaus, wird in Kapitel 4 der Punkt erreicht sein, an dem die Frage nach dem Unendlichen schließlich fundiert gestellt werden kann.
2: Endlichkeit
Gadamer nimmt sich in Wahrheit und Methode vor, die „Erfahrung der Wahrheit“ aufzusuchen, dort mit seinen Untersuchungen zu beginnen.[1] Darum geht es im ersten Teil seines Hauptwerkes gerade um die „Freilegung der Wahrheitsfrage“.[2]
Gadamer steht in der phänomenologischen Tradition. Die Freilegung einer Frage anhand von Erfahrung ist das Vorgehen der phänomenologischen Forschung.[3] Es gibt keinen Standpunkt der „absoluten Vernunft“[4], von dem aus der Mensch denken und philosophieren könnte. Lehnt man demnach einen absoluten Standpunkt ab, anerkennt man eine Position, die Heidegger möglicherweise von allen Philosophen am besten beschreibt, wenn er von der „Faktizität des Daseins“ spricht.[5] Das bedeutet, dass die Philosophie nicht vergessen darf, dass der erfahrende Mensch immer schon in Bezügen steht, die ein Rekurrieren auf die „absolute Vernunft“ nicht zulassen. Gadamer schreibt: „Vernunft […] bleibt stets auf die Gegebenheiten angewiesen, an denen sie sich betätigt.“[6]
Gadamer stellt sich damit in eine Tradition, die erkannt hat, dass
„[d]as Bewußtein oder auch: das Verständnis, aus welchem wir die Welt betrachten, nicht abermals ein Werk unseres Bewußtseins oder unseres Verständnisses [ist], sondern eher etwas, das uns geschieht/widerfährt. Es gibt Bewußtsein, aber Bewußtsein ist kein ursprüngliches Phänomen, es ist kein Prinzip […] Wäre nämlich die Weltansicht ein Produkt unseres Bewußtseins, so könnten wir unsere Conditio auch vollständig aus unserem Bewußtsein erklären: nichts wäre dunkel, alles wäre beherrschbar […].“[7]
So wird klar, warum Gadamer nach der Erfahrung der Wahrheit, nicht etwa nach wahrem Wissen oder dem Bewusstsein desselben sucht. Allerdings ergibt sich nun die Frage, worauf die Philosophie überhaupt noch fußen kann.
Der Begriff der Endlichkeit füllt nun in positiver Weise dieses Erklärungsvakuum. Wo vormals in der Philosophiegeschichte versucht wurde, vom absoluten Bewusstsein auszugehen, muss nun umgedacht und eine Philosophie, die die Unbeherrschbarkeit unserer Situation aufnimmt, entwickelt werden. „Systeme ohne innere Einheit und ohne absolutes Zentrum werden zur unhintergehbaren Bedingung unseres Daseins und unserer Weltorientierung.“[8] Von nun an muss von der Endlichkeit aus gedacht werden. Als vorzügliches Faktum unserer Existenz muss sie in jeder ernst zu nehmenden Philosophie thematisch gemacht werden. Also muss man zur Klärung der Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung der Wahrheit nach der Endlichkeit fragen.[9] Hier scheint die Grundlage gefunden zu sein, auf der jede Philosophie fußen muss.
Um die Endlichkeit zu befragen, wird hier zunächst die Geschichtlichkeit des Menschen in den Blick genommen (Kapitel 2.1). Nachdem anhand dieser einige Grundzüge der Endlichkeit aufgezeigt wurden, werden andere Instanzen der Endlichkeit in der ästhetischen und religiösen Erfahrung gesucht (Kapitel 2.2). Daraus soll in Kapitel 2.3 ein explizites Verständnis der Endlichkeit erwachsen.
2.1: Geschichtlichkeit
Es muss also um Endlichkeit gehen, sobald Gadamers Philosophie nach der Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung befragt wird. Es wurde gezeigt, dass man mit einigem Recht sagen könnte, Gadamers Philosophie fuße transzendental auf der Endlichkeit. Wie genau aber sieht Gadamers Endlichkeitsbegriff aus?
In der Ablehnung der Philosophie der absoluten Vernunft, stützt Gadamer sich freilich nicht explizit auf die Endlichkeit, sondern auf das geschichtliche Menschentum, also die Geschichtlichkeit.[10] Dieser Komplex muss zunächst als Ausgangspunkt dienen. Es muss zum einen gezeigt werden, dass die Geschichtlichkeit ein Aspekt der Endlichkeit ist, zum anderen, dass die Geschichtlichkeit und die Endlichkeit nicht deckungsgleich sind, dass es neben der Geschichtlichkeit noch andere Instanzen der Endlichkeit gibt. So soll ein Fundament erarbeitet werden, von dem aus tiefere Einsicht in die Endlichkeit überhaupt möglich ist.
Dabei ist es problematisch, dass Gadamer an einigen Stellen fast synonymisch von Endlichkeit und Geschichtlichkeit zu sprechen scheint. Hier soll davon ausgegangen werden, dass die Geschichtlichkeit der Endlichkeit hierarchisch untergeordnet ist; dass sie eine Instanz der Endlichkeit ist, aber nicht die einzige. Dennoch wird hier im Sinne Gadamers die Geschichtlichkeit allen anderen Instanzen der Endlichkeit in Bedeutsamkeit vorangestellt.
Zuvor jedoch muss der Vollständigkeit halber noch in aller Kürze gezeigt werden, dass in der Geschichte Wahrheit zu finden ist (Kapitel 2.1.1); schließlich wurde oben die Notwendigkeit der Endlichkeit als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung der Wahrheit aufgezeigt. Erst mit dieser Grundlage können dann gezielt Strukturmomente der Endlichkeit in der Geschichtlichkeit gesucht werden (Kapitel 2.1.2). Zuletzt sollen die bei diesen Schritten aufkommenden Begriffe in die Systematik von Wahrheit und Methode eingeordnet werden (Kapitel 2.1.3).
2.1.1: Wahrheit in der Geschichte
Geht man von der Wissenschaft der Geschichte aus, liegt der Bezug zur Wahrheit auf der Hand. In seinem Aufsatz Wahrheit in den Geisteswissenschaften schreibt Gadamer:
„Auf Überlieferung hören und in Überlieferung stehen, das ist offenbar der Weg der Wahrheit, den es in den Geisteswissenschaften zu finden gilt. Auch alle Kritik an der Überlieferung, zu der wir als Historiker gelangen, dient am Ende dem Ziele, sich an die echte Überlieferung, in der wir stehen, anzuschließen. Bedingtheit ist also nicht eine Beeinträchtigung geschichtlicher Erkenntnis, sondern ein Moment der Wahrheit selbst.“[11]
Hier wird offensichtlich, dass Gadamer einen ganz eigenen Wahrheitsbegriff verwendet, der näher am griechischen ἀλήθεια als am logisch-prädikativen Gebrauch ist. Damit ist freilich nicht gesagt, dass Gadamer den griechischen Begriff in seiner Gänze übernimmt, vielmehr ist dieser bei ihm Ausgangspunkt, um einen genuin hermeneutischen Wahrheitsbegriff zu entwickeln.[12]
Allerdings wird das Problem des geschichtlichen Menschentums so nur teilweise beleuchtet, geht das Menschentum doch ganz offensichtlich über die Wissenschaften und die Wissenschaftler hinaus. Tatsächlich verhält sich jeder Mensch immer schon zu Geschichte, und zwar auf der gleichen Basis, wie der Historiker sich zu Geschichte verhält (macht doch der Historiker schließlich nur einen größeren Teil der Geschichte zu seiner Geschichte[13]). So bezieht Gadamer eine Position, die nicht zwischen dem entsprechenden Ausgangspunkt des allgegenwärtigen Daseinsvollzuges und dem historischen Forschen unterscheidet.[14]
Das menschliche Bewusstsein erinnert und vergegenwärtigt immer schon.[15] Die Geschichtlichkeit ist somit wesentliches Strukturmoment des Menschen.[16] Das oben zur historischen Forschung Gesagte, dass in ihr Wahrheit geschieht, kann somit transitiv auf das geschichtliche Bewusstsein angewandt werden. Also geschieht im Mensch-sein überhaupt geschichtliche Wahrheit.[17]
Das Vergegenwärtigte wird allerdings niemals als abgeschlossene historische Tatsache oder konzis umrissener Gegenstand vergegenwärtigt. Es ist letztendlich nämlich nicht von einer vergangenen Sache und ihrer Wirkung auf die Situation[18] des historisch Erfahrenden zu unterscheiden. Diese Verbindung von Sache und Wirkung nennt Gadamer das „Prinzip der Wirkungsgeschichte“.[19] Wenn ein Mensch etwas vergegenwärtigt, geht er eigentlich mit dessen Wirkungsgeschichte um.
2.1.2: Geschichtlichkeit und Endlichkeit
„In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören ihr.“[20]
In diesem Zitat offenbaren sich zwei zentrale Gedanken Gadamers. Zum einen ist der Mensch kein absoluter Akteur, stattdessen widerfährt dem Menschen die Geschichte: Wir gehören ihr. Zum anderen widerfährt dem Menschen nicht irgendetwas, sondern immer schon die Geschichte: Wir gehören ihr. Das soll nicht heißen, dass ihm nichts anderes wiederführe. Aber es ist ein Hinweis darauf, dass der Mensch, wie oben angezeigt wurde, immer mindestens in einem geschichtlichen Geschehen steht.
Es wurde gezeigt, dass die Endlichkeit etwas mit den Bezügen zu tun hat, in denen der Mensch immer steht. Hier scheint ein Hinweis gegeben zu sein, welcher Bezug vorzüglich das Mensch-Sein bestimmt: Die Geschichtlichkeit. Mit dem phänomenologischen Unterbau Gadamers führt der Weg zur Endlichkeit an dieser Stelle über die Frage: Wie sieht die Erfahrung der eigenen Geschichtlichkeit aus?
„Die eigentliche Erfahrung ist diejenige, in der sich der Mensch seiner Endlichkeit bewußt wird. An ihr findet das Machenkönnen und das Selbstbewußtsein seiner planenden Vernunft seine Grenze. Es erweist sich als bloßer Schein, daß sich alles rückgängig machen läßt, daß immer für alles Zeit ist und alles irgendwie wiederkehrt. Der in der Geschichte Stehende und Handelnde macht vielmehr ständig die Erfahrung, daß nichts wiederkehrt. Anerkennen dessen, was ist, meint hier nicht: Erkennen dessen, was einmal da ist, sondern Einsicht in die Grenzen, innerhalb deren Zukunft für Erwartung und Planung noch offen ist – oder noch grundsätzlicher, daß alle Erwartung und Planung endlicher Wesen eine endliche und begrenzte ist. Eigentliche Erfahrung ist somit Erfahrung der eigenen Geschichtlichkeit.“[21]
Wenn Gadamer hier von eigentlicher Erfahrung spricht, bezieht er sich wahrscheinlich auf Heideggers Konzept von Eigentlichkeit.[22] Allerdings scheint er das Adjektiv lediglich zur Betonung heranzuziehen, schließlich geht es in seiner Abhandlung zur Erfahrung stets um die gelungene, die hermeneutisch fruchtbare Erfahrung. So ist auch im Folgenden, sobald von Erfahrung die Rede ist, letztlich von eigentlicher Erfahrung in diesem Sinne die Rede.
Das obige Zitat gibt anhand von drei zentralen Stichwörtern Aufschluss über die Endlichkeit: Machenkönnen, Selbstbewusstsein und Zeitverständnis.
Beim Machenkönnen zeigt sich zunächst das Moment des Widerfahrens, das bereits angesprochen wurde. Es ist nicht möglich, alles zu machen, weil der Mensch nicht wirklich der Machende ist. Er kann zwar etwas machen, muss aber jederzeit damit rechnen, dass ihm etwas geschieht, das sich seiner Kontrolle entzieht.
Interessant ist, dass Gadamer hier überhaupt zunächst auf das Machen eingeht. Damit ist etwas Zentrales gesagt: Hermeneutik ist immer auch ein Handeln. So wie jedes Verstehen immer schon qua Applikation eine Rückbindung an „die gegenwärtige Situation des Interpreten“[23] beinhaltet, bindet jede Erfahrung den Erfahrenden an sein Leben zurück.[24] Die hermeneutische Situation und die Lebenssituation sind untrennbar verbunden, darum bemüht Gadamer auch Aristoteles‘ Begriff der φρόνησις, welcher das pragmatische Wesen der lebenssituativen Bezüge betont.[25]
Wenn Gadamer dann vom Selbstbewusstsein spricht, scheint er einen Begriff davon ausbilden zu wollen, der gegen die oben diskutierte absolute Vernunft steht. Das eigentliche Selbstbewusstsein muss sich klar sein, dass es ganz genau wie das Machenkönnen begrenzt ist. Liegt es bei Letzterem daran, dass die Welt[26] unberechenbar ist, kann man analog sagen, dass auch das Selbstbewusstsein selber mit Unberechenbarkeit umgehen muss. Hermeneutisch würde man allerdings weniger von Selbstbewusstsein, als von sich-Verstehen sprechen, schließlich wird man sich etwas bewusst, indem man es versteht; man selbst ist davon nicht ausgenommen.[27]
Die Kopplung von Verstehen und sich-Verstehen bedeutet hier, dass man sich selbst verstehen kann, aber nie endgültig. Man versteht auch sich selbst, wie alles, nur aus einer Situation heraus. Man kann „nie im Sichwissen [a]ufgehen.“[28] Dass man Sachen immer nur bedingt verstehen kann, hat Gadamer schon mit dem Begriff der Offenheit deutlich gemacht.[29] So schwingt im Verstehen immer schon sokratische Bescheidenheit mit, aber ebenso beim sich-Verstehen. Radikal wird aufgezeigt, wie wenig man wissen kann.
In gewisser Weise fußt all dies auf dem dritten Punkt: der Zeit.[30] Heidegger hat in Sein und Zeit mit einigem Recht darzulegen versucht, dass der letztendliche Horizont des phänomenologischen Denkens die Zeit sei. Wie stichhaltig seine Beweisführung ist, sei dahingestellt; interessant ist an dieser Stelle der Hinweis, dass sich jedes Denken immer schon implizit auf Zeit bezieht. Dieser Bezug findet statt, indem sich das Dasein in der Spannung zwischen der je eigenen Zukunft, Vergangenheit und auch Gegenwart vorfindet. Zusätzlich kommt dazu die Geschichtlichkeit aller Sachen, mit denen der Mensch umgeht, also die Wirkungsgeschichte. Inwieweit sich diese Vorrangstellung der Zeit in Bezug auf den Daseinsvollzug auch bei Gadamer findet, wird am Ende des nächsten Kapitels zu beurteilen sein.
Es zeigt sich, dass es die Erfahrung ist, die im Zentrum von Gadamers Hermeneutik steht. Nur in der Erfahrung sind die in diesem Kapitel diskutierten Strukturen konkret vorzufinden. Es muss stets bedacht werden, dass die Frage nach dem Unendlichen immer auf Erfahrung zurückgeführt werden muss. Ansonsten begäbe man sich auf ein Gebiet jenseits einer auf die Endlichkeit gerichteten Philosophie. Soll in dieser Arbeit also die Ontologie des Unendlichen geklärt werden, muss dieser Rückbezug immer offensichtlich bleiben.
2.1.3: Horizontverschmelzung
Die Erfahrung hat als Anhaltspunkt für die Frage nach dem Unendlichen die Grenzen des endlichen Menschen gezeigt. Allerdings muss kurz geklärt werden, was eine Grenze von einem Horizont unterscheidet. Nicht nur entwickelt Gadamer keinen eigenen, expliziten Begriff von Grenze, seine Konzeption des Horizontes scheint in einiger Hinsicht die Rolle der Grenze im oben zitierten Absatz so einnehmen zu können, dass es verwundert, warum nicht gleich von Horizont die Rede ist.
Ein erstes Charakteristikum der Grenze ist eine gewisse Verbindlichkeit. Man würde erwarten, dass sie nicht beliebig verschoben wird. Gadamer selbst differenziert so scheinbar Grenze und Horizont: „Ein Horizont ist ja keine starre Grenze, sondern etwas, das mitwandert und zum weiteren Vordringen einlädt.“[31] Das heißt zwar noch nicht, dass alle Grenzen starr sein müssen, aber dennoch sollte eine Grenze weder einladen noch mitwandern.
Weiterhin grenzt eine Grenze etwas von etwas anderem ab. Ohne eine andere Seite ist eine Grenze hinfällig. Dagegen bestimmt ein Horizont eine Gesamtheit, man kann nicht über den Horizont hinaussehen: „Horizont ist der Gesichtskreis, der all das umfaßt und umschließt, was von einem Punkt aus sichtbar ist.“[32]
Außerdem scheinen Grenze und Horizont die Lösungsansätze zu völlig verschiedenen Problemen zu beschreiben. In der Diskussion des Horizontes wird klar, was der Mensch aus seiner Situation heraus verstehen kann. Die in der eigentlichen Erfahrung aufgezeigten Grenzen dagegen scheinen vielmehr eben jene Situation zu beleuchten.
Es gibt also drei Aspekte, in denen sich Grenze scheinbar von Horizont unterscheidet: Die Möglichkeit zur Verschiebung, die Frage nach dem, was darüber hinausgeht und zuletzt die methodische Stoßrichtung.
Bei genauer Betrachtung lässt sich diese klare Trennung allerdings nicht verteidigen. Zunächst liegt ein Missverständnis vor, wenn die in der eigentlichen Erfahrung angesprochenen Grenzen als allzu starr aufgefasst werden. Das von Gadamer hervorgehobene negative Grundmoment der Erfahrung deutet darauf hin,[33] dass auch die dort erfahrenen Grenzen möglicherweise stets revidiert werden müssen. Es ist nicht auszuschließen, dass es absolute Grenzen des Menschen gibt, die vielleicht auch in jeder Erfahrung potentiell offenbar werden. Tatsächlich allerdings scheint der erfahrende Mensch zunächst seine eigenen Grenzen neu zu hinterfragen und zwar eigentlich – man denke an die Offenheit – stets vorläufig. Ebenso kommt dem Horizont eine gewisse Verbindlichkeit zu. Bis der Mensch der Einladung zum Vordringen nachkommt, bis er einen Anlass hat, weiter zu fragen, ist der Horizont scheinbar unverrückbar, bzw. es gibt keinen Anlass, an seiner Unverrückbarkeit zu zweifeln. Demgegenüber steht wiederrum die Tendenz des Menschen auch Grenzen zu hinterfragen und zu verschieben.
Was das Bild des Horizontes auf den ersten Blick nicht bietet, ist ein Blick über den von ihm umfassten Bereich hinaus. Scheinbar ist der Unterschied zur Grenze hier unüberwindbar. Und es stimmt, die Grenze erhält ihren Sinn erst durch die andere Seite, die in der Grenzerfahrung oder -setzung immer schon einbezogen werden muss. Allerdings wird das Totalitäre in der Konzeption des Horizontes von Gadamer selbst unterwandert. Die Analyse des Horizontes wird letztendlich in der Besprechung der Horizontverschmelzung münden.[34] Das Bild vom Horizont wird dadurch vollendet, dass es mehrere Horizonte gibt, denn „Verstehen ist immer der Vorgang der Verschmelzung solcher vermeintlich für sich seiender Horizonte.“[35] In der hermeneutischen Situation, stünde der Mensch immer schon vor oder in der Spannung mehrerer Horizonte.[36] Man müsste blind sein, in der Erfahrung keinen Horizont für verschiedene Horizonte aufzubauen: „Ist nämlich einmal der Horizont für das Andere aufgetaucht, so wird man auch für das Andere des Horizontes sensibel.“[37] Zwar hat der einzelne Mensch eine genuin eigene Situation, die auch einen Horizont hat, aber tatsächlich steht dieser Horizont schon immer in Spannung:
„So wird erst durch die Begegnung deutlich, daß wir in viele Horizontstrukturen verwoben sind und erst von dort her unsere Verstehensleistung zu erbringen vermögen. […] In jeder Begegnung begegnen sich vor allem Horizonte, die den einzelnen weit übersteigen.“[38]
Der Blick aus der konkreten Situation geht also doch über den individuellen Horizont hinaus. Gadamer selbst spricht von Vorverständnis.[39] Dabei ergibt sich das begriffliche Problem, dass Verstehen wesenhaft immer innerhalb des Horizontes vollzogen wird. Der Gadamer-Kritiker Rombach hat deshalb stattdessen den Begriff Vorhorizont vorgeschlagen.[40] Letztendlich kommt dem horizonthaften Verstehen also auch etwas Grenzhaftes zu. Der eigene Horizont ist immer in Spannung mit dem Fremden, dem Anderen, dem Unverständlichen und dem noch-nicht-Verstandenem. Deutlicher noch werden die Grenzen der einzelnen Horizonte, wenn man bedenkt, dass es – idealisiert betrachtet – bloß einen einzigen Horizont gibt,[41] der aber nie erreicht werden kann, dass nie alles endgültig verstanden werden kann.
Allerdings muss bisher bezweifelt werden, ob der Vergleich von Grenzen und Horizonten nicht sinnlos ist, schließlich zielen beide Begriffe auf je verschiedene Problembereiche. Doch man muss sich fragen, inwieweit Situation und Horizont eines Menschen überhaupt voneinander zu trennen sind. Es ist zwar ohne Frage möglich, sie getrennt zu analysieren, aber das würde möglicherweise die enormen Wechselwirkungen der beiden Bereiche unterschlagen. Zum einen bestimmt die Situation den Horizont. Jemand, der heute geboren wird, wird nicht den Horizont eines antiken Griechen haben. Umgekehrt aber ist Gadamers Philosophie eng am Daseinsvollzug orientiert – man denke an Applikation und φρόνησις –, sodass es kaum sinnvoll wäre, zu behaupten, Horizontverschmelzung würde die Situation nicht beeinflussen. Jemand, der einen neuen Horizont gewonnen hat, verändert sich, hinterfragt seine Vorurteile, begibt sich in eine neue Situation. Grenzen und Horizonte sollten demnach je so untersucht werden, dass die enge Verbindung zum jeweils anderen nicht unbeachtet bleibt.
Es gibt also eine innige Verbundenheit von den erfahrenen Grenzen und den erarbeiteten Horizonten. Dies soll im Folgenden legitimieren, Strukturmomente der Horizontverschmelzung für die hier zentralen Grenzen heranzuziehen.[42] Die Horizontverschmelzung ist dahingehend nützlich für diese Argumentation, als dass sie das Prozesshafte an Gadamers Philosophie mit ausdrückt. Ob bei Grenzen oder Horizonten, es geht immer um einen Lebensvollzug im Prozess. Die Horizontverschmelzung erklärt das Verstehen des je endlichen Menschen sowohl von anderen solchen Menschen als auch von Sachen, ohne allzu viele theoretische Annahmen zu machen. Aufgrund ihrer theoretischen Schlankheit bietet sich dieses Konzept an, von ihm aus weiter zu fragen; wie es hier auch mit einer ontologischen Stoßrichtung geschehen soll. Da es möglich ist, sowohl Grenzen als auch Horizonte mit der Horizontverschmelzung theoretisch zu erfassen, soll sie als Sprungbrett zur Ontologie dienen. Zunächst muss aber der Komplex zur Erfahrung noch abgeschlossen werden. Durch die Erarbeitung eines Grenzbegriffes kann nun auch fundiert nach den Momenten der Grenzsetzung in der eigentlichen Erfahrung gefragt werden.
2.2: Kunst und Religion
Bisher scheint es so, als sei die eigentliche Erfahrung unmittelbar mit der Geschichtlichkeit verbunden.[43] Ganz offensichtlich gibt es aber auch andere Arten von Erfahrungen als die geschichtliche. Hier ist es nun Aufgabe, zu zeigen, dass auch in diesen anderen Arten von Erfahrung die Endlichkeit erfahren wird. So soll gezeigt werden, dass Geschichtlichkeit und Endlichkeit nicht deckungsgleich sind.
Beispielsweise leitet Gadamer sein Fazit zur Abhandlung der hermeneutischen Erfahrung in Anlehnung an Aischylos mit der Beschreibung einer religiösen[44] Erfahrung ein:
„Was der Mensch durch Leiden [das negierende Moment jeder echten Erfahrung] lernen soll, ist nicht dieses oder jenes, sondern ist die Einsicht in die Grenzen des Menschseins, die Einsicht in die Unaufhebbarkeit der Grenze zum Göttlichen hin. […] Erfahrung ist also Erfahrung der menschlichen Endlichkeit. Erfahren im eigentlichen Sinne ist, wer ihrer inne ist, wer weiß, daß er der Zeit und der Zukunft nicht Herr ist. Der Erfahrene nämlich kennt die Grenze alles Voraussehens und die Unsicherheit aller Pläne. In ihm vollendet sich der Wahrheitswert der Erfahrung. […]“[45]
Auch in der Religion erkennt der Mensch also seine Grenzen. Auch hier könnte man wieder Machenkönnen, Selbstbewusstsein und Zeitverständnis, die hinterfragt werden, verorten. Freilich in anderer Art und Weise, als in der geschichtlichen Erfahrung (nämlich im Bezug zum Göttlichen anstatt zur Geschichte), aber dennoch nicht weniger einschneidend.
Viel prominenter noch als die religiöse Erfahrung, ist in Wahrheit und Methode die ästhetische. Der wahre Zuschauer blickt nicht bloß, er erleidet.[46] Das heißt, dass er in der Kunsterfahrung (für die bei Gadamer die Tragödie scheinbar als pars pro toto steht) der Erfahrende „sich selbst und sein eigenes endliches Sein angesichts der Macht des Schicksals [erkennt].“