Der Moment in dem du deine Ärmel hochkrempelst
Die Flure sind kalt.
Der Sanitäter hat gesagt, du seist gefährdet.
Gefahr wovor?
Das musst du dir nochmal erläutern lassen.
Der Schwarztee schmeckt beschissen und hinterlässt einen merklichen Belag auf deinen
Zähnen, pelzig.
Finn sagt, hör’ auf, dich ständig für alles zu entschuldigen, verdammt nochmal!
Du zitierst Wolf Biermann und antwortest, ich möchte am liebsten weg sein und bleibe am
liebsten hier.
Finn verdreht die Augen.
Du und deine bedeutungsschwangeren Songtexte immerzu.
Die Mandarine tropft auf das schäbig gemusterte Krankenhausnachthemd, sie lässt sich
schlecht schälen.
Du hättest das Obstmesser nehmen sollen, sagt Finn, dann würde jetzt hier nicht alles in Saft
schwimmen.
Er steht auf und zieht einige Feuchttücher aus dem Spender an der Wand; alles ist klebrig, die
Mullbinde am Handgelenk, deine Fingerkuppen.
Der Winter begann bläulich und bleiern.
Als du zum ersten Mal vom Geräusch des Schneeschaufelns geweckt wurdest, schlaftrunken
am Fenster rauchtest, stelltest du dir die Mutter vor, die dich vor etlichen Jahren morgens in
die Kälte hinausgejagt hatte, die Hofeinfahrt von Schnee zu befreien.
Im Sommer waren es die Stachelbeeren gewesen, die zu pflücken du dich vergebens gesträubt
hast, im Winter die vermaledeite Eiskratzerei. So wünschtest du dir bei der Ernte das
Hereinbrechen der kalten Jahreszeit und zu ebenjener reife Gartenfrüchte, um der
unliebsamen Aufgabe zu entkommen.
Jetzt bist du längst kein Kind mehr und liegst in einem Krankenhausbett und vorsichtshalber
schickt dich niemand irgendwohin.
Gedeihen wollen.
Ist das dieser Tage zu viel verlangt?, wunderst du dich oft.
Nicht so quasi-botanisch, sondern gedeihen im Kontext personeller Ausbaufähigkeit.
Steigerung dieses subtilen Wunschgedankens wäre die Strebsamkeit danach, der eigenen Seele,
diesem innenwohnenden, verschlammten, verkorksten Diamantenklumpen stets näher zu
kommen.
Quasi introvertiert ins hauseigene Nirvana abzutauchen, wachsartig zusammenzuschmelzen,
sich in diesen bizarren Seelenklotz zu versenken, ihn zur dattelkerngroßen Restmaterie der
Wesentlichkeit schrumpfen lassen zu wollen, und hernach, weil konsequenterweise überhaupt
keine Wahl mehr bleibt, ihn als diesen seelischen Mikroextrakt, des Pudels Kern, die
geschrumpelte Quintessenz aller Daseinsberechtigung wiederum extrovertiert und ungehemmt
ins ruinöse Universum zu schleudern.
Plakativ.
Zur allgemeinen Verunsicherung, vielleicht.
Die Mutter hat gestern Pflaumenmus gebracht, selbst eingemachtes, und einige Illustrierte.
Magst du mir nicht doch erzählen, was vorgefallen ist, hm?, hat sie schüchtern gefragt, und
sachte deinen einbandagierte Handrücken gestreichelt. So zaghaft, als könne sie jeden
Moment zu Staub zerfallen.
Ich habe nichts zu verheimlichen, hast du erwidert, ohne ihr ins Gesicht zu sehen. Aber das
Meiste von mir weiß ich ja selbst nicht.
Sie schien für einen Augenblick die Kapitulation zu begreifen.
Die Version deiner Identität, die kurzfristig ihrer Reizüberflutung erlag, verunsichert und
fragmentiert.
Du hast dankbar ihre raue Hand an deine Wange gelegt und dich gefragt, wie viele
komplementärfarbenen Entscheidungen dich zu exakt diesem Zenit geführt haben; und ob
sich dieser Verband, dieses Nachthemd, dieser sorgenvolle Blick deiner Mutter hätte
konterkarieren lassen.
Du möchtest keine solcherlei Rätsel lösen, jetzt jedenfalls schon gar nicht.
Eventuell tauchen die Antworten beizeiten unverhofft im Türrahmen auf, so wie Finn mit
seinen klebrigen Mandarinen und seiner schonungslosen Wut.
Du schließt die Augen. Ich möchte am liebsten weg sein, und bleibe am liebsten hier.
Kristallfarbenes Unterholz soll mit Gefahren warten,
die See soll rau und ungestüm sein,
für immer, immer, immer.
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