Der Moment in dem du deine Ärmel hochkrempelst

Die Flure sind kalt.

Der Sanitäter hat gesagt, du seist gefährdet.

Gefahr wovor?

Das musst du dir nochmal erläutern lassen.

Der Schwarztee schmeckt beschissen und hinterlässt einen merklichen Belag auf deinen

Zähnen, pelzig.

Finn sagt, hör’ auf, dich ständig für alles zu entschuldigen, verdammt nochmal!

Du zitierst Wolf Biermann und antwortest, ich möchte am liebsten weg sein und bleibe am

liebsten hier.

Finn verdreht die Augen.

Erstellt von Steppansonja vor 8 Jahren

Du und deine bedeutungsschwangeren Songtexte immerzu.

Die Mandarine tropft auf das schäbig gemusterte Krankenhausnachthemd, sie lässt sich

schlecht schälen.

Du hättest das Obstmesser nehmen sollen, sagt Finn, dann würde jetzt hier nicht alles in Saft

schwimmen.

Er steht auf und zieht einige Feuchttücher aus dem Spender an der Wand; alles ist klebrig, die

Mullbinde am Handgelenk, deine Fingerkuppen.

Der Winter begann bläulich und bleiern.

Als du zum ersten Mal vom Geräusch des Schneeschaufelns geweckt wurdest, schlaftrunken

am Fenster rauchtest, stelltest du dir die Mutter vor, die dich vor etlichen Jahren morgens in

die Kälte hinausgejagt hatte, die Hofeinfahrt von Schnee zu befreien.

Im Sommer waren es die Stachelbeeren gewesen, die zu pflücken du dich vergebens gesträubt

hast, im Winter die vermaledeite Eiskratzerei. So wünschtest du dir bei der Ernte das

Hereinbrechen der kalten Jahreszeit und zu ebenjener reife Gartenfrüchte, um der

unliebsamen Aufgabe zu entkommen.

Jetzt bist du längst kein Kind mehr und liegst in einem Krankenhausbett und vorsichtshalber

schickt dich niemand irgendwohin.

Gedeihen wollen.

Ist das dieser Tage zu viel verlangt?, wunderst du dich oft.

Nicht so quasi-botanisch, sondern gedeihen im Kontext personeller Ausbaufähigkeit.

Steigerung dieses subtilen Wunschgedankens wäre die Strebsamkeit danach, der eigenen Seele,

diesem innenwohnenden, verschlammten, verkorksten Diamantenklumpen stets näher zu

kommen.

Quasi introvertiert ins hauseigene Nirvana abzutauchen, wachsartig zusammenzuschmelzen,

sich in diesen bizarren Seelenklotz zu versenken, ihn zur dattelkerngroßen Restmaterie der

Wesentlichkeit schrumpfen lassen zu wollen, und hernach, weil konsequenterweise überhaupt

keine Wahl mehr bleibt, ihn als diesen seelischen Mikroextrakt, des Pudels Kern, die

geschrumpelte Quintessenz aller Daseinsberechtigung wiederum extrovertiert und ungehemmt

ins ruinöse Universum zu schleudern.

Plakativ.

Zur allgemeinen Verunsicherung, vielleicht.

Die Mutter hat gestern Pflaumenmus gebracht, selbst eingemachtes, und einige Illustrierte.

Magst du mir nicht doch erzählen, was vorgefallen ist, hm?, hat sie schüchtern gefragt, und

sachte deinen einbandagierte Handrücken gestreichelt. So zaghaft, als könne sie jeden

Moment zu Staub zerfallen.

Ich habe nichts zu verheimlichen, hast du erwidert, ohne ihr ins Gesicht zu sehen. Aber das

Meiste von mir weiß ich ja selbst nicht.

Sie schien für einen Augenblick die Kapitulation zu begreifen.

Die Version deiner Identität, die kurzfristig ihrer Reizüberflutung erlag, verunsichert und

fragmentiert.

Du hast dankbar ihre raue Hand an deine Wange gelegt und dich gefragt, wie viele

komplementärfarbenen Entscheidungen dich zu exakt diesem Zenit geführt haben; und ob

sich dieser Verband, dieses Nachthemd, dieser sorgenvolle Blick deiner Mutter hätte

konterkarieren lassen.

Du möchtest keine solcherlei Rätsel lösen, jetzt jedenfalls schon gar nicht.

Eventuell tauchen die Antworten beizeiten unverhofft im Türrahmen auf, so wie Finn mit

seinen klebrigen Mandarinen und seiner schonungslosen Wut.

Du schließt die Augen. Ich möchte am liebsten weg sein, und bleibe am liebsten hier.

Kristallfarbenes Unterholz soll mit Gefahren warten,

die See soll rau und ungestüm sein,

für immer, immer, immer.

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