Die Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgeht. Wie Hannah Arendt zu ihrer berühmten These kam [Ausschnitt]
Hannah Arendt ist für die These bekannt, dass wir in einer Arbeitsgesellschaft leben, der die Arbeit ausgeht. Diese schon 1958 geäußerte Aussage ist zum Leitgedanken vieler arbeitskritischer Überlegungen geworden und wurde in abgewandelter Form nicht zuletzt als Leitfrage für dieses Buch und die ihm zu Grunde liegende Ringvorlesung aufgegriffen.
Und obwohl Hannah Arendt keineswegs eine Theorie des Arbeitens liefert, ist ihre These von der Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgeht, ein guter Ausgangspunkt, um einige Probleme des Arbeitens genauer zu beleuchten. Arendts diesbezügliche Annahmen können uns als Werkzeug dienen, um zu untersuchen, ob es wirklich so ist, dass uns die Arbeit ausgeht oder ob uns vielleicht nur bestimmte Formen von Arbeit ausgehen und ob deren Ende, wenn es denn sicher wäre, auch das Ende der Arbeit an sich bedeuten würde. Hannah Arendt hat ihre eigene Methode einmal als „Suche nach phänomenaler Evidenz“ (Arendt 1981: 120) bezeichnet. Diese Suche besteht darin, die heutige Bedeutung von Dingen oder Zusammenhängen zu ergründen, indem verdeckte Bedeutungen freigelegt werden, die in Begriffen und Bezeichnungen mittransportiert werden und die eine Vorstellung darüber vermitteln, was Dinge und Zusammenhänge früher einmal bedeutet haben. Dabei können Gründe dafür aufgedeckt werden, wie und warum es zu möglichen Veränderungen oder Verschiebungen von den früheren zu heutigen Bedeutungen kam. In dieser Weise geht Arendt auch bei der Bestimmung des Arbeitens vor: Sie legt nicht einfach eine Definition dessen vor, was Arbeit ist, sondern sie interessiert sich vor allem dafür, was Arbeit einmal war, was es dann wurde und wie seine für uns so zentrale Bedeutung zustande gekommen ist.
Arendts Forschungsgebiet war nach eigener Aussage nicht die Philosophie, sondern die politische Theorie (vgl. Arendt1998: 44), an der sie vor allem das Bestehen politischer Gemeinschaften in der Antike und das spontane politische Zusammenhandeln von Menschen in Revolutionen interessierte. Vor allem die Antike ist für Arendts Überlegungen stets ein wichtiger Referenzpunkt. Und so untersucht sie auch die zentrale Bedeutung des Arbeitens in modernen Gesellschaften im Vergleich zur antiken Gesellschaftsordnung, womit Arendt den weitest möglichen Abstand zur modernen Aufwertung des Arbeitens wählt, weil das Arbeiten in der Antike eine denkbar geringe Bedeutung hatte.. Der Bezug zur Antike, der nicht nur den Arbeitsbegriff, sondern alle ihre theoretischen Konzepte betrifft, zeigt allerdings nicht nur sehr deutlich die Unterschiede zur Gegenwart, sondern erschwert auch die Auseinandersetzung mit Hannah Arendt, weil die relativ übersichtlichen Verhältnisse in einer antiken Polis nicht ohne Weiteres auf komplexe moderne Probleme übertragbar sind. So ist der antike Arbeitsbegriff in vielen Punkten derart konträr zu unserer heutigen Auffassung, dass ein direkter Vergleich zwischen beiden kaum möglich ist. Gerade dieser offensichtliche Widerspruch zwischen Arendts und unseren Vorstellungen zum Arbeiten erlaubt es aber, das moderne Verständnis zu hinterfragen und einiges zur Klärung der gegenwärtigen Krise der Arbeitsgesellschaft beizutragen. Die nachfolgende Auseinandersetzung mit Hannah Arendts Arbeitsbegriff ist in zwei Teile gegliedert: Im ersten Teil wird zunächst Arendts Arbeitsbegriff selbst diskutiert und dabei auch auf die wesentlichen Referenzen eingegangen. Im zweiten Teil wird gezeigt, was genau Arendts Ansatz für die aktuelle Problematik der Arbeitsgesellschaft interessant macht.
Drei Formen des menschlichen Tätigseins
Hannah Arendt legt keine Arbeitstheorie im eigentlichen Sinne vor, weil ihr das Arbeiten vor allem als Abgrenzungsbegriff dient, um die politische Tätigkeitsform von Menschen genauer zu bestimmen – und diese politische Tätigkeitsform ist in Arendts Augen nicht das Arbeiten, sondern das gemeinsame Handeln von Menschen. Arendt geht es nicht vorrangig um eine genaue Begriffsklärung des Arbeitens, sondern um die Kritik an einer Gesellschaft, die sich über Arbeit definiert. Arendts Überlegungen zum Arbeiten ordnen sich in ein Konzept vom menschlichen Tätigsein überhaupt ein, das sie in ihrem 1958 erschienenen Buch „Vita activa“ entwickelt hat. Hannah Arendt unterscheidet dort ganz grundsätzlich drei Formen, in denen Menschen tätig sind, nämlich Arbeiten, Herstellen und Handeln. Diese Tätigkeiten bestimmt Arendt als Werkzeuge, die Menschen einsetzen, um mit den Bedingungen umzugehen, innerhalb derer ihr Leben stattfindet. Die Hauptbedingung des menschlichen Lebens ist seine Endlichkeit, die von Arendt in beide Richtungen und nicht nur vom Ende her, nämlich als Sterblichkeit, gedacht wird. Hannah Arendt weist darauf hin, dass die Endlichkeit eine zweite Seite neben der Sterblichkeit hat, weil das Leben ja zunächst einmal mit der Geburt einen Anfang hat. Für diesen Zusammenhang hat sie den Begriff Natalität oder Gebürtlichkeit geprägt.
Diese allgemeine, durch die Spanne zwischen Geburt und Tod geprägte Bedingtheit des menschlichen Lebens wird von Arendt noch einmal in drei Unterbereiche untergliedert: Menschen sind durch das Leben selbst (im biologischen Sinne), durch Dauerhaftigkeit bzw. Weltlichkeit und durch Pluralität bedingt. Hannah Arendt betont ganz ausdrücklich den ermöglichenden Aspekt dieser Einschränkungen und unterscheidet schematisch drei Tätigkeitsformen, von denen jede für einen spezifischen Bereich der Bedingtheit zuständig ist: das Arbeiten, das Herstellen und das Handeln. Das Arbeiten dient ist dazu, das Leben zu erneuern, zu erhalten und zu ernähren. Es entspricht der Bedingung des Lebens selbst und besteht im Groben darin, für die Fortdauer des Lebenskreislaufes zu sorgen. Das Herstellen entspricht der Bedingung der Weltlichkeit oder Objektivität, weil in ihm Dinge hervorgebracht werden, die eine stabile und dauerhafte Umgebung konstruieren. Das Handeln schließlich hängt mit der Bedingung der Pluralität zusammen, dem Fakt also, dass Menschen nicht alleine auf der Welt leben, sondern sich mit anderen in Gemeinschaften zusammentun.
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Nun bleibt zum Schluss noch die von Hannah Arendt selbst aufgeworfene Frage, ob wir tatsächlich in einer Gesellschaft leben, der die Arbeit ausgeht oder nicht. Die Ausführungen zu Arendt haben uns gezeigt, dass die Antwort auf diese Frage ganz stark davon abhängt, wie wir Arbeit verstehen. Wenn wir Arbeit als Subsistenz- bzw. Überlebenstätigkeit bestimmen, dann ist klar, dass uns die Arbeit nicht ausgehen kann und dass sie aber auch nicht beschafft werden kann. Menschen sind dann nämlich immer schon „in Arbeit“, wenn sie leben und Arbeit ist dann etwas, das erledigt muss bzw. das seine Erledigung erzwingt. Wenn wir Arbeit als Erwerbsarbeit betrachten, ist auch nicht klar, ob uns tatsächlich die Arbeit ausgeht oder ob uns nur das Geld ausgeht, gesellschaftlich relevante Tätigkeiten zu entlohnen. Gesellschaften müssen ja auch erhalten werden und bedürfen der Arbeit und es scheint im Moment tatsächlich sehr stark eine Definitionsfrage zu sein, was wir als Arbeit bestimmen und was nicht. Wenn wir Arbeit aber als Sinninstanz verstehen, dann sollten wir theoretisch ein Interesse daran haben, dass sie uns nicht ausgeht. Nach dem, was wir von Hannah Arendt gehört haben, sollten wir aber eher gelernt haben, dass Arbeit diese Funktion der Sinninstanz nicht ausfüllen kann. Wir sollten demzufolge die gegenwärtige Krise des Arbeitens nutzen, um andere gesellschaftliche Sinngrundlagen neben dem Arbeiten zu überprüfen und zu etablieren.