Die Zukunft der deutschen Sprache in den Geisteswissenschaften
I. Am 16. Juni 1960 erschien in der Londoner Times ein Artikel über den Eingang englischer Begriffe in den Sprachschatz der Deutschen, überschrieben mit: „Linguistic Invasion of Germany“. Nicht ohne Mitleid berichtete der Bonner Korrespondent der Zeitung, man sei in der Bundesrepublik neuerdings so sehr damit beschäftigt, „blue jeans“ zu tragen, „fiction“ zu lesen und Weißbrot in den „toaster“ zu schieben, dass man darüber völlig vergesse, sich um den Erhalt der deutschen Sprache zu sorgen. Und wo nicht vergesslich, da schienen ihm die Deutschen erschreckend unterwürfig. Nach der Niederlage von 1945 habe sich eine „linguistic submissiveness“ breitgemacht, die organisierten Widerstand gegen die Invasion der englischen Fremdwörter verunmögliche. Dass die Deutschen den schrittweisen Zerfall ihrer Sprache nicht verhindern konnten, so die Schlussfolgerung des Autors, lag vor allem daran, dass sie ihn nicht verhindern wollten. War der Artikel seiner Zeit voraus? Oder läutet die Totenglocke für die deutsche Sprache bereits seit einem halben Jahrhundert? Sicher ist, dass die Times den Text heute noch einmal veröffentlich
I. Am 16. Juni 1960 erschien in der Londoner Times ein Artikel über den Eingang englischer Begriffe in den Sprachschatz der Deutschen, überschrieben mit: „Linguistic Invasion of Germany“. Nicht ohne Mitleid berichtete der Bonner Korrespondent der Zeitung, man sei in der Bundesrepublik neuerdings so sehr damit beschäftigt, „blue jeans“ zu tragen, „fiction“ zu lesen und Weißbrot in den „toaster“ zu schieben, dass man darüber völlig vergesse, sich um den Erhalt der deutschen Sprache zu sorgen.
Und wo nicht vergesslich, da schienen ihm die Deutschen erschreckend unterwürfig. Nach der Niederlage von 1945 habe sich eine „linguistic submissiveness“ breitgemacht, die organisierten Widerstand gegen die Invasion der englischen Fremdwörter verunmögliche. Dass die Deutschen den schrittweisen Zerfall ihrer Sprache nicht verhindern konnten, so die Schlussfolgerung des Autors, lag vor allem daran, dass sie ihn nicht verhindern wollten. War der Artikel seiner Zeit voraus? Oder läutet die Totenglocke für die deutsche Sprache bereits seit einem halben Jahrhundert? Sicher ist, dass die Times den Text heute noch einmal veröffentlichen könnte. Lediglich die Absätze mit den Beispielwörtern müssten neu geschrieben werden und vielleicht ist auch die den Artikel durchziehende Kriegsmetaphorik etwas aus der Mode. Die Argumente jedoch sind die gleichen geblieben: „Die Geringschätzung der Muttersprache, der Mangel an Sprachloyalität und die schwach ausgeprägte Förderung der deutschen Sprache von staatlicher Seite gefährden [in den deutschsprachigen Ländern] die Funktion der Sprache als Verständigungsmittel“, heißt es zum Beispiel in den Leitlinien des Vereins Deutsche Sprache.ii Ratlos und machtlos erscheinen diejenigen, die solche Diagnosen stellen. Am Ende stehen ein paar aufgeregte Publizisten einem Publikum gegenüber, das womöglich überhaupt nicht nachvollziehen kann, woran der unterstellte Niedergang der deutschen Sprache festzumachen sein soll. Denn sie mag zwar etwas anders klingen als noch vor fünfzig Jahren und auch an Anglizismen reicher sein, doch als Alltagssprache funktioniert sie heute ebenso gut wie damals. Anders, schlechter, steht es um Deutsch als Wissenschaftssprache. In zahlreichen Disziplinen schreiben und tagen auch deutschsprachige Wissenschaftler mittlerweile ganz überwiegend auf Englisch, in anderen befindet man sich auf bestem Wege, die englische Sprache als vorherrschendes Kommunikationsmedium zu etablieren. Besonders die Natur- und Ingenieurswissenschaften benutzen Englisch auch abseits von internationalen Kommunikationszusammenhängen als Einheitssprache. Die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sind im Inbegriff ihnen nachzufolgen. Es handelt sich hier, in den Wissenschaften, also längst nicht mehr um einen bloßen kulturellen Austausch zwischen der deutschen und der englischen Sprachgemeinschaft, sondern in letzter Konsequenz um den Austausch der deutschen durch die englische Sprache. Dies „bedeutet die Verschleuderung eines immensen geistigen und materiellen Kapitals, das über Jahrhunderte hinweg angesammelt worden ist“ und „gefährdet eine Tradition, auf der das geistige Leben des Landes beruht“, urteilte Helmut Glück 2008 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. II. Was ist da über uns hereingebrochen? An Erklärungsversuchen mangelt es nicht. Gerade dort, wo der Wandel weniger weit fortgeschritten ist, etwa in den Rechts- und besonders in den Geisteswissenschaften, ist man durchaus um eine Analyse des bisher Geschehenen bemüht. Zumeist deshalb, weil man sich Erkenntnisse über die eigene Zukunft erhofft. Dabei hat sich ein Narrativ etabliert, nach dem die deutsche Wissenschaftssprache zuerst ihre herausragende internationale Stellung eingebüßt habe und schließlich auch national bedeutungslos geworden sei oder bedeutungslos werden müsse. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts genoss die deutsche Sprache in den Wissenschaften ein hohes länderübergreifendes Ansehen und war in einzelnen Disziplinen das bevorzugte Medium internationaler Kommunikation. Die großzügige Förderung der Wissenschaften in Deutschland, rückblickend an den Gründungsdaten zahlreicher Forschungsinstitutionen ablesbar, ermöglichte bemerkenswerte Forschungsleistungen und organisatorische Initiativen. Das Kaiserreich konkurrierte mit den anderen großen Wissenschaftsnationen – Großbritannien, Frankreich und den Vereinigten Staaten – um Einfluss in internationalen Institutionen der Wissenschaft und war dabei durchaus bemüht, der deutschen Sprache zu mehr Geltung zu verhelfen. Zugleich erarbeiteten sich deutsche Wissenschaftler Führungsrollen in ihren Disziplinen und verliehen so der deutschen Wissenschaftssprache eine zusätzliche Strahlkraft. Das angesprochene Narrativ vom Untergang der deutschen Wissenschaftssprache beginnt im Jahr 1914. Wenige Wochen nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs wandten sich 93 berühmte deutsche Wissenschaftler, Künstler und Schriftsteller mit dem Aufruf „An die Kulturwelt!“ an die internationale Öffentlichkeit und versuchten die deutsche Kriegspolitik zu rechtfertigen. Die erhoffte Wirkung blieb aus. Dass jedoch zahlreiche deutsche Intellektuelle der verbreiteten Kriegsbegeisterung erlegen waren, beschädigte ihren Ruf nachhaltig. Zugleich waren alle am Krieg beteiligten Staaten bemüht, die Wissenschaften in den Dienst ihrer Kriegsführung zu stellen. Auf deutscher Seite wurde deshalb wissenschaftliche Literatur einer strengen Zensur unterworfen und mit Ausfuhrverboten belegt, da möglicherweise kriegswichtige Forschungsergebnisse nicht dem Gegner zufallen sollten. Die Spaltung der internationalen Wissenschaftsgemeinde vollzog sich entlang der Frontlinien der militärischen Auseinandersetzung. Die Wissenschaftler in den alliierten Ländern wandten sich von ihren deutschen Kollegen ab und schließlich, weil sie auf deutschsprachige Fachliteratur verzichten mussten, auch von der deutschen Sprache. Insbesondere in den Vereinigten Staaten entstanden neue Zeitschriften, Referatenorgane und Bibliographien. Indessen verbot man Deutschen und Österreichern nach dem Krieg, Mitglied der neu gegründeten Organisationen zu werden oder an Kongressen teilzunehmen. Auf einen von Franzosen und Belgiern angeführten Boykott folgte ein Gegenboykott der Deutschen, der ihre Reintegration in den internationalen Wissenschaftsbetrieb weiter verzögerte. Als sich Mitte der 1920er Jahre die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund anbahnte, waren es die deutschen Wissenschaftsverbände, die einen nun möglich gewordenen Beitritt in die neuen internationalen Organisationen der Wissenschaft ablehnten. Einen noch größeren Einschnitt bedeutete die nationalsozialistische Herrschaft von 1933 bis 1945. Die Nationalsozialisten waren zwar bemüht, das Ansehen der deutschen Sprache im Ausland zu mehren und in den internationalen Wissenschaftsverbänden wieder an Einfluss zu gewinnen, doch ihre Politik, besonders die „Gleichschaltung“ auch der Wissenschaften und die Vertreibung zahlreicher jüdischer oder politisch andersdenkender Intellektueller, hatte internationale Proteste von Wissenschaftlern zur Folge. Insgesamt beschädigten die nationalsozialistischen Verbrechen das Ansehen der deutschen Sprache – nicht allein als Wissenschaftssprache – in einem immensen Ausmaß. Undenkbar schien 1945, dass die Sprache der KZ-Aufseher und Massenmörder je wieder internationale Wertschätzung erlangen könnte. Im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg verlief der Wiederaufbau der deutschen Wissenschaften nur schleppend; die Kriegsverluste waren kaum auszugleichen und viele vertriebene Wissenschaftler blieben im Ausland. Nicht nur sie wechselten zur englischen Sprache, sondern auch viele anderssprachige Wissenschaftler, die vormals auf Deutsch publiziert hatten. Deutsch hatte innerhalb weniger Jahrzehnte seine Bedeutung als internationale Wissenschaftssprache weitgehend eingebüßt. III. Der zweite Teil des Narrativs, so wurde oben bereits geschrieben, bezieht sich nunmehr auf den nationalen Bedeutungsverlust der deutschen Wissenschaftssprache, also die sogenannte „Anglisierung“ der Wissenschaften. Die Ausgangsfrage lautet: Weshalb ist es für deutsche Wissenschaftler zahlreicher Disziplinen im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend attraktiver geworden, ihre Originalarbeiten nicht auf Deutsch, sondern auf Englisch zu publizieren? Die populäre, weil griffige Erklärung, die deutschen Wissenschaftler hätten „mit der Zeit […] den Mumm verloren, sich für ihre Sprache in internationalen Verbänden und auf Konferenzen einzusetzen“ (Ulrich Ammon)v und die zu beobachtende Entwicklung nicht zuletzt durch eine wie auch immer geartete Rückgratlosigkeit mitgetragen, greift selbstverständlich zu kurz. Zunächst ist festzuhalten, dass es insbesondere us-amerikanische Wissenschaftler waren, die sich innerhalb weniger Jahrzehnte in zahlreichen Disziplinen einen Vorsprung erarbeitet und so zum internationalen Ansehen der englischen Sprache beigetragen haben. Sie profitierten dabei von der wirtschaftlichen Übermacht der Vereinigten Staaten, die zwar nicht relativ zum Bruttoinlandsprodukt, aber doch absolut gesehen wesentlich mehr Geld in Wissenschaft investieren als alle anderen Länder. Addiert man die Ausgaben der übrigen englischsprachigen Staaten hinzu, ergibt sich für die Wissenschaften dieser Sprachgemeinschaft ein beträchtlicher finanzieller Vorteil. (Dass das Niveau der Wissenschaften nicht unwesentlich von den verfügbaren Geldmitteln abhängt, liegt nahe, wurde aber auch empirisch nachgewiesen.) Die Vormachtstellung wurde bekräftigt, als neue Techniken des Personen-, Güter- und Datenverkehrs die Wissenschaftswelt weiter zusammenrücken ließen. Fortan war es einfacher, für ein internationales Publikum zu schreiben. Wer einen möglichst großen Kreis von Wissenschaftlern aus aller Welt erreichen wollte, publizierte, soweit möglich, in der länderübergreifend verbreitetsten Wissenschaftssprache, also auf Englisch. Es handelte sich hierbei um jeweils individuelle Entscheidungen zugunsten eines internationalen Publikums, aber auch zugunsten der englischen Sprache. Der Sprachwechsel funktionierte dabei als ein sich selbst verstärkender Mechanismus, denn mit jedem Wissenschaftler, der seine Forschungsergebnisse auf Englisch veröffentlichte, wuchs die internationalisierte, englischsprechende Wissenschaftsgemeinschaft. Mit wachsender Größe wiederum stieg für alle „Außenstehenden“ der Anreiz, ihr ebenfalls beizutreten. Die anhaltende Dominanz mag außerdem dazu geführt haben, dass englischsprachige Wissenschaftler den größten Teil der in anderen Sprachen verfassten Fachliteratur weitgehend ignorieren. So ergibt sich ein zusätzlicher Zwang, auf Englisch zu veröffentlichen, will man von der englischsprachigen Wissenschaftsgemeinde wahrgenommen werden. IV. Als Zwischenfazit lässt sich festhalten, dass das Narrativ vom Niedergang der deutschen Wissenschaftssprache zwei Dimensionen besitzt. Zunächst eine historische Dimension, die als unmittelbare Erklärung für das aktuelle Geschehen aber nur eingeschränkt geeignet scheint. Denn anzumerken wäre, dass etwa die französische Wissenschaftssprache heute vor vergleichbaren Problemen steht, ohne dass die französische Geschichte diesbezügliche Schlussfolgerungen zulassen würde oder die Franzosen jemals den Eindruck erweckt hätten, sie schämten sich ihrer Sprache, wie man es – es wurde oben geschrieben – seit 1945 regelmäßig den Deutschen vorwirft. Die sich anschließende funktionale Dimension des Narrativs lässt zumindest einen Brückenschlag zur Vergangenheit zu. Deutschsprachige Wissenschaftler entscheiden sich heute aus dem gleichen Grund, auf Englisch zu publizieren, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in vielen Disziplinen für eine Publikation auf Deutsch sprach: eine möglichst breite Wahrnehmung im internationalen fachwissenschaftlichen Diskurs. Auch in den Geisteswissenschaften scheint es, als könnte die deutsche Wissenschaftssprache zukünftig an Bedeutung verlieren. Bereits seit einigen Jahren existiert ein wahrnehmbares „Schwellenbewusstsein“, dem subjektive Einschätzungen der Lage und vorsichtige Empirie zugrunde liegen. So untersuchte der Germanist Ulrich Ammon in seiner vergleichsweise faktenreichen Monographie „Ist Deutsch noch internationale Wissenschaftssprache?“, ob die deutsche Sprache während der letzten Jahrzehnte auch in der Geschichtswissenschaft und der Philosophie an Boden verloren hat. Er kommt unter anderem zu folgenden Ergebnissen: In der Philosophie sei der Anteil der deutschen Sprache an allen in der Datenbank Philosopher‘s Index erfassten Publikationen zwischen 1970 und 1995 von 11,9 auf 3,2 Prozent gesunken. In der Geschichtswissenschaft, wo Ammon den Zeitraum zwischen 1974 und 1995 anhand der Datenbank Historical Abstracts on Disc auswertete, von 9,2 auf 5,3 Prozent. Man wird die dürftige Datenbasis dieser Einzelstatistik kritisieren müssen, doch sie stützt, so scheint es, die Mehrheitsmeinung. Nicht nur Ammon glaubt, dass „die Sozial- und Geisteswissenschaften von der Hinwendung zum Englischen als Weltwissenschaftssprache nicht unberührt geblieben sind.“ Daraus aber zu schlussfolgern, die deutsche Sprache würde als Medium der Geisteswissenschaften absehbar jede Bedeutung verlieren, ist voreilig. Es sollen nachfolgend zwei Argumente gegen eine solche Prognose vorgebracht werden. Sie beziehen sich beide auf die fundamentalen Unterschiede zwischen natur- oder ingenieurswissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Fachsprachen, sind also in letzter Konsequenz auch Argumente gegen die Fortschreibung des erläuterten Narrativs. Es gibt Disziplinen, in denen die Aufgabe der eigenen Sprache zugunsten einer Fremdsprache keinen Präzisionsverlust bedeuten muss. So verfügen zum Beispiel alle mathematisch geprägten Disziplinen über eine international verstandene und vollkommen präzise Formelsprache, die dem Erkenntnisprozess zugrunde liegt. In den Geisteswissenschaften hingegen müssen präzise Formulierungen der natürlichen Sprache erst abgerungen werden. Man wird sogar sagen dürfen, dass Terminologisierung einen wesentlichen Teil des geisteswissenschaftlichen Erkenntnisprozesses ausmacht. Die Texterstellung bedarf deshalb einer praktisch vollständigen Beherrschung der verwendeten Sprache. Es wäre vermessen zu glauben, dass ein solches Beherrschungsniveau des Englischen durch den acht- oder neunjährigen Besuch eines Gymnasiums und sich eventuell anschließende nebentätige Bemühungen während des Studiums von einer Mehrheit zu erreichen sein könnte. Außerdem besitzen zahlreiche Disziplinen der Geisteswissenschaft einen explizit regionalen Bezug, der oft eine gewisse Sprachgebundenheit mit sich bringt. Auf den ersten Blick einleuchtend ist dies für die Sprachwissenschaften, etwa die Germanistik. Doch auch die Geschichtswissenschaft beschäftigt sich zu einem Gutteil mit der Geschichte von Nationen, Ländern und Regionen, deren jeweilige Sprache als Wissenschaftssprache zumeist zweckmäßig erscheint und auch weiterhin zumeist zweckmäßig erscheinen muss. Generell gilt: Wo lokal begrenzte, gar endemische Phänomene untersucht, wo Probleme der eigenen Gesellschaft oder der eigenen Sprachgemeinschaft thematisiert werden und wo die Adressaten einer Publikation die deutsche Sprache mehrheitlich besser beherrschen als die englische, wird man schon aus Gründen der Vernunft beim Deutschen bleiben. „Was die Geisteswissenschaften angeht, wird man schlicht sagen dürfen, dass eine Anglisierung einfach nicht eintreten wird, dass sie praktisch gar nicht möglich ist“, schließt der Sprachwissenschaftler Hans-Martin Gauger. V. Zuweilen wird die Anglisierung der deutschen Wissenschaften als teleologischer Prozess dargestellt, der sich mit einer gewissen Zwangsläufigkeit vollziehen muss und nicht ohne Weiteres aufzuhalten ist. Allein unter dieser Prämisse funktioniert das Narrativ vom Untergang der deutschen Wissenschaftssprache. Dabei wird verkannt, dass der Wandel besonders in den Natur- und Ingenieurswissenschaften nicht durch wissenschaftspolitische Initiativen angestoßen wurde. Er ist auch nicht Ergebnis einer „Linguistic Invasion“ der deutschsprachigen Wissenschaftswelt, wie der eingangs zitierte Korrespondent der Times vielleicht schreiben würde. Geradezu albern wirkt es gar, den Wandel auf eine angeblich 1945 einsetzende „Sprachscham der Deutschen“ zurückzuführen, wie es zum Beispiel Jürgen Trabant 2007 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung getan hat. Die weitgehende Ablösung der deutschen Wissenschaftssprache in den Natur- und Ingenieurswissenschaften ist viel mehr die Folge kontingenter Entscheidungen einzelner Wissenschaftler und Publikationsorgane zugunsten der englischen Sprache. Auch in den Geisteswissenschaften kann von Zwangsläufigkeit keine Rede sein. Viel mehr deutet alles darauf hin, dass die deutsche Sprache auch im 21. Jahrhundert ein wichtiges Medium der Geisteswissenschaften bleiben wird. Erstens die Notwendigkeit der Sache: Erkenntnis ist hier stärker sprachgebunden als in anderen Disziplinen. Zweitens die kaum noch zu zählenden Unternehmungen zum Erhalt der deutschen Wissenschaftssprache, teilweise initiiert von besorgten Wissenschaftlern, teilweise von den in der Einleitung kritisierten Pflegern der deutschen Alltagssprache. Doch nicht aus National- oder Sprachstolz, weniger aus emotionaler Verbundenheit, sondern aus Vernunftgründen lässt sich zu der Erkenntnis kommen, dass die deutsche Wissenschaftssprache ein schützenswertes Gut ist. Denn ihr Verschwinden führt dazu, dass keine neuen Terminologien mehr entwickelt werden und die deutsche Sprache erst als Medium der fachwissenschaftlichen Kommunikation, später als Medium der Wissenschaftsvermittlung, d.h. der Lehre und der Popularisierung von Wissenschaft, unbrauchbar werden muss. So vergrößert sich die Kluft zwischen Fachleuten und Laien; die gesellschaftliche Teilhabe an wissenschaftlichen Prozessen wird durch sprachliche Unzugänglichkeit verhindert. Oder anders gewendet: Ein Bedeutungsverlust der deutschen Sprache in den Geisteswissenschaften führt zu einem Bedeutungsverlust der Geisteswissenschaften in der Gesellschaft.
en könnte. Lediglich die Absätze mit den Beispielwörtern müssten neu geschrieben werden und vielleicht ist auch die den Artikel durchziehende Kriegsmetaphorik etwas aus der Mode. Die Argumente jedoch sind die gleichen geblieben: „Die Geringschätzung der Muttersprache, der Mangel an Sprachloyalität und die schwach ausgeprägte Förderung der deutschen Sprache von staatlicher Seite gefährden [in den deutschsprachigen Ländern] die Funktion der Sprache als Verständigungsmittel“, heißt es zum Beispiel in den Leitlinien des Vereins Deutsche Sprache.ii Ratlos und machtlos erscheinen diejenigen, die solche Diagnosen stellen. Am Ende stehen ein paar aufgeregte Publizisten einem Publikum gegenüber, das womöglich überhaupt nicht nachvollziehen kann, woran der unterstellte Niedergang der deutschen Sprache festzumachen sein soll. Denn sie mag zwar etwas anders klingen als noch vor fünfzig Jahren und auch an Anglizismen reicher sein, doch als Alltagssprache funktioniert sie heute ebenso gut wie damals. Anders, schlechter, steht es um Deutsch als Wissenschaftssprache. In zahlreichen Disziplinen schreiben und tagen auch deutschsprachige Wissenschaftler mittlerweile ganz überwiegend auf Englisch, in anderen befindet man sich auf bestem Wege, die englische Sprache als vorherrschendes Kommunikationsmedium zu etablieren. Besonders die Natur- und Ingenieurswissenschaften benutzen Englisch auch abseits von internationalen Kommunikationszusammenhängen als Einheitssprache. Die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sind im Inbegriff ihnen nachzufolgen. Es handelt sich hier, in den Wissenschaften, also längst nicht mehr um einen bloßen kulturellen Austausch zwischen der deutschen und der englischen Sprachgemeinschaft, sondern in letzter Konsequenz um den Austausch der deutschen durch die englische Sprache. Dies „bedeutet die Verschleuderung eines immensen geistigen und materiellen Kapitals, das über Jahrhunderte hinweg angesammelt worden ist“ und „gefährdet eine Tradition, auf der das geistige Leben des Landes beruht“, urteilte Helmut Glück 2008 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. II. Was ist da über uns hereingebrochen? An Erklärungsversuchen mangelt es nicht. Gerade dort, wo der Wandel weniger weit fortgeschritten ist, etwa in den Rechts- und besonders in den Geisteswissenschaften, ist man durchaus um eine Analyse des bisher Geschehenen bemüht. Zumeist deshalb, weil man sich Erkenntnisse über die eigene Zukunft erhofft. Dabei hat sich ein Narrativ etabliert, nach dem die deutsche Wissenschaftssprache zuerst ihre herausragende internationale Stellung eingebüßt habe und schließlich auch national bedeutungslos geworden sei oder bedeutungslos werden müsse. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts genoss die deutsche Sprache in den Wissenschaften ein hohes länderübergreifendes Ansehen und war in einzelnen Disziplinen das bevorzugte Medium internationaler Kommunikation. Die großzügige Förderung der Wissenschaften in Deutschland, rückblickend an den Gründungsdaten zahlreicher Forschungsinstitutionen ablesbar, ermöglichte bemerkenswerte Forschungsleistungen und organisatorische Initiativen. Das Kaiserreich konkurrierte mit den anderen großen Wissenschaftsnationen – Großbritannien, Frankreich und den Vereinigten Staaten – um Einfluss in internationalen Institutionen der Wissenschaft und war dabei durchaus bemüht, der deutschen Sprache zu mehr Geltung zu verhelfen. Zugleich erarbeiteten sich deutsche Wissenschaftler Führungsrollen in ihren Disziplinen und verliehen so der deutschen Wissenschaftssprache eine zusätzliche Strahlkraft. Das angesprochene Narrativ vom Untergang der deutschen Wissenschaftssprache beginnt im Jahr 1914. Wenige Wochen nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs wandten sich 93 berühmte deutsche Wissenschaftler, Künstler und Schriftsteller mit dem Aufruf „An die Kulturwelt!“ an die internationale Öffentlichkeit und versuchten die deutsche Kriegspolitik zu rechtfertigen. Die erhoffte Wirkung blieb aus. Dass jedoch zahlreiche deutsche Intellektuelle der verbreiteten Kriegsbegeisterung erlegen waren, beschädigte ihren Ruf nachhaltig. Zugleich waren alle am Krieg beteiligten Staaten bemüht, die Wissenschaften in den Dienst ihrer Kriegsführung zu stellen. Auf deutscher Seite wurde deshalb wissenschaftliche Literatur einer strengen Zensur unterworfen und mit Ausfuhrverboten belegt, da möglicherweise kriegswichtige Forschungsergebnisse nicht dem Gegner zufallen sollten. Die Spaltung der internationalen Wissenschaftsgemeinde vollzog sich entlang der Frontlinien der militärischen Auseinandersetzung. Die Wissenschaftler in den alliierten Ländern wandten sich von ihren deutschen Kollegen ab und schließlich, weil sie auf deutschsprachige Fachliteratur verzichten mussten, auch von der deutschen Sprache. Insbesondere in den Vereinigten Staaten entstanden neue Zeitschriften, Referatenorgane und Bibliographien. Indessen verbot man Deutschen und Österreichern nach dem Krieg, Mitglied der neu gegründeten Organisationen zu werden oder an Kongressen teilzunehmen. Auf einen von Franzosen und Belgiern angeführten Boykott folgte ein Gegenboykott der Deutschen, der ihre Reintegration in den internationalen Wissenschaftsbetrieb weiter verzögerte. Als sich Mitte der 1920er Jahre die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund anbahnte, waren es die deutschen Wissenschaftsverbände, die einen nun möglich gewordenen Beitritt in die neuen internationalen Organisationen der Wissenschaft ablehnten. Einen noch größeren Einschnitt bedeutete die nationalsozialistische Herrschaft von 1933 bis 1945. Die Nationalsozialisten waren zwar bemüht, das Ansehen der deutschen Sprache im Ausland zu mehren und in den internationalen Wissenschaftsverbänden wieder an Einfluss zu gewinnen, doch ihre Politik, besonders die „Gleichschaltung“ auch der Wissenschaften und die Vertreibung zahlreicher jüdischer oder politisch andersdenkender Intellektueller, hatte internationale Proteste von Wissenschaftlern zur Folge. Insgesamt beschädigten die nationalsozialistischen Verbrechen das Ansehen der deutschen Sprache – nicht allein als Wissenschaftssprache – in einem immensen Ausmaß. Undenkbar schien 1945, dass die Sprache der KZ-Aufseher und Massenmörder je wieder internationale Wertschätzung erlangen könnte. Im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg verlief der Wiederaufbau der deutschen Wissenschaften nur schleppend; die Kriegsverluste waren kaum auszugleichen und viele vertriebene Wissenschaftler blieben im Ausland. Nicht nur sie wechselten zur englischen Sprache, sondern auch viele anderssprachige Wissenschaftler, die vormals auf Deutsch publiziert hatten. Deutsch hatte innerhalb weniger Jahrzehnte seine Bedeutung als internationale Wissenschaftssprache weitgehend eingebüßt. III. Der zweite Teil des Narrativs, so wurde oben bereits geschrieben, bezieht sich nunmehr auf den nationalen Bedeutungsverlust der deutschen Wissenschaftssprache, also die sogenannte „Anglisierung“ der Wissenschaften. Die Ausgangsfrage lautet: Weshalb ist es für deutsche Wissenschaftler zahlreicher Disziplinen im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend attraktiver geworden, ihre Originalarbeiten nicht auf Deutsch, sondern auf Englisch zu publizieren? Die populäre, weil griffige Erklärung, die deutschen Wissenschaftler hätten „mit der Zeit […] den Mumm verloren, sich für ihre Sprache in internationalen Verbänden und auf Konferenzen einzusetzen“ (Ulrich Ammon)v und die zu beobachtende Entwicklung nicht zuletzt durch eine wie auch immer geartete Rückgratlosigkeit mitgetragen, greift selbstverständlich zu kurz. Zunächst ist festzuhalten, dass es insbesondere us-amerikanische Wissenschaftler waren, die sich innerhalb weniger Jahrzehnte in zahlreichen Disziplinen einen Vorsprung erarbeitet und so zum internationalen Ansehen der englischen Sprache beigetragen haben. Sie profitierten dabei von der wirtschaftlichen Übermacht der Vereinigten Staaten, die zwar nicht relativ zum Bruttoinlandsprodukt, aber doch absolut gesehen wesentlich mehr Geld in Wissenschaft investieren als alle anderen Länder. Addiert man die Ausgaben der übrigen englischsprachigen Staaten hinzu, ergibt sich für die Wissenschaften dieser Sprachgemeinschaft ein beträchtlicher finanzieller Vorteil. (Dass das Niveau der Wissenschaften nicht unwesentlich von den verfügbaren Geldmitteln abhängt, liegt nahe, wurde aber auch empirisch nachgewiesen.) Die Vormachtstellung wurde bekräftigt, als neue Techniken des Personen-, Güter- und Datenverkehrs die Wissenschaftswelt weiter zusammenrücken ließen. Fortan war es einfacher, für ein internationales Publikum zu schreiben. Wer einen möglichst großen Kreis von Wissenschaftlern aus aller Welt erreichen wollte, publizierte, soweit möglich, in der länderübergreifend verbreitetsten Wissenschaftssprache, also auf Englisch. Es handelte sich hierbei um jeweils individuelle Entscheidungen zugunsten eines internationalen Publikums, aber auch zugunsten der englischen Sprache. Der Sprachwechsel funktionierte dabei als ein sich selbst verstärkender Mechanismus, denn mit jedem Wissenschaftler, der seine Forschungsergebnisse auf Englisch veröffentlichte, wuchs die internationalisierte, englischsprechende Wissenschaftsgemeinschaft. Mit wachsender Größe wiederum stieg für alle „Außenstehenden“ der Anreiz, ihr ebenfalls beizutreten. Die anhaltende Dominanz mag außerdem dazu geführt haben, dass englischsprachige Wissenschaftler den größten Teil der in anderen Sprachen verfassten Fachliteratur weitgehend ignorieren. So ergibt sich ein zusätzlicher Zwang, auf Englisch zu veröffentlichen, will man von der englischsprachigen Wissenschaftsgemeinde wahrgenommen werden. IV. Als Zwischenfazit lässt sich festhalten, dass das Narrativ vom Niedergang der deutschen Wissenschaftssprache zwei Dimensionen besitzt. Zunächst eine historische Dimension, die als unmittelbare Erklärung für das aktuelle Geschehen aber nur eingeschränkt geeignet scheint. Denn anzumerken wäre, dass etwa die französische Wissenschaftssprache heute vor vergleichbaren Problemen steht, ohne dass die französische Geschichte diesbezügliche Schlussfolgerungen zulassen würde oder die Franzosen jemals den Eindruck erweckt hätten, sie schämten sich ihrer Sprache, wie man es – es wurde oben geschrieben – seit 1945 regelmäßig den Deutschen vorwirft. Die sich anschließende funktionale Dimension des Narrativs lässt zumindest einen Brückenschlag zur Vergangenheit zu. Deutschsprachige Wissenschaftler entscheiden sich heute aus dem gleichen Grund, auf Englisch zu publizieren, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in vielen Disziplinen für eine Publikation auf Deutsch sprach: eine möglichst breite Wahrnehmung im internationalen fachwissenschaftlichen Diskurs. Auch in den Geisteswissenschaften scheint es, als könnte die deutsche Wissenschaftssprache zukünftig an Bedeutung verlieren. Bereits seit einigen Jahren existiert ein wahrnehmbares „Schwellenbewusstsein“, dem subjektive Einschätzungen der Lage und vorsichtige Empirie zugrunde liegen. So untersuchte der Germanist Ulrich Ammon in seiner vergleichsweise faktenreichen Monographie „Ist Deutsch noch internationale Wissenschaftssprache?“, ob die deutsche Sprache während der letzten Jahrzehnte auch in der Geschichtswissenschaft und der Philosophie an Boden verloren hat. Er kommt unter anderem zu folgenden Ergebnissen: In der Philosophie sei der Anteil der deutschen Sprache an allen in der Datenbank Philosopher‘s Index erfassten Publikationen zwischen 1970 und 1995 von 11,9 auf 3,2 Prozent gesunken. In der Geschichtswissenschaft, wo Ammon den Zeitraum zwischen 1974 und 1995 anhand der Datenbank Historical Abstracts on Disc auswertete, von 9,2 auf 5,3 Prozent. Man wird die dürftige Datenbasis dieser Einzelstatistik kritisieren müssen, doch sie stützt, so scheint es, die Mehrheitsmeinung. Nicht nur Ammon glaubt, dass „die Sozial- und Geisteswissenschaften von der Hinwendung zum Englischen als Weltwissenschaftssprache nicht unberührt geblieben sind.“ Daraus aber zu schlussfolgern, die deutsche Sprache würde als Medium der Geisteswissenschaften absehbar jede Bedeutung verlieren, ist voreilig. Es sollen nachfolgend zwei Argumente gegen eine solche Prognose vorgebracht werden. Sie beziehen sich beide auf die fundamentalen Unterschiede zwischen natur- oder ingenieurswissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Fachsprachen, sind also in letzter Konsequenz auch Argumente gegen die Fortschreibung des erläuterten Narrativs. Es gibt Disziplinen, in denen die Aufgabe der eigenen Sprache zugunsten einer Fremdsprache keinen Präzisionsverlust bedeuten muss. So verfügen zum Beispiel alle mathematisch geprägten Disziplinen über eine international verstandene und vollkommen präzise Formelsprache, die dem Erkenntnisprozess zugrunde liegt. In den Geisteswissenschaften hingegen müssen präzise Formulierungen der natürlichen Sprache erst abgerungen werden. Man wird sogar sagen dürfen, dass Terminologisierung einen wesentlichen Teil des geisteswissenschaftlichen Erkenntnisprozesses ausmacht. Die Texterstellung bedarf deshalb einer praktisch vollständigen Beherrschung der verwendeten Sprache. Es wäre vermessen zu glauben, dass ein solches Beherrschungsniveau des Englischen durch den acht- oder neunjährigen Besuch eines Gymnasiums und sich eventuell anschließende nebentätige Bemühungen während des Studiums von einer Mehrheit zu erreichen sein könnte. Außerdem besitzen zahlreiche Disziplinen der Geisteswissenschaft einen explizit regionalen Bezug, der oft eine gewisse Sprachgebundenheit mit sich bringt. Auf den ersten Blick einleuchtend ist dies für die Sprachwissenschaften, etwa die Germanistik. Doch auch die Geschichtswissenschaft beschäftigt sich zu einem Gutteil mit der Geschichte von Nationen, Ländern und Regionen, deren jeweilige Sprache als Wissenschaftssprache zumeist zweckmäßig erscheint und auch weiterhin zumeist zweckmäßig erscheinen muss. Generell gilt: Wo lokal begrenzte, gar endemische Phänomene untersucht, wo Probleme der eigenen Gesellschaft oder der eigenen Sprachgemeinschaft thematisiert werden und wo die Adressaten einer Publikation die deutsche Sprache mehrheitlich besser beherrschen als die englische, wird man schon aus Gründen der Vernunft beim Deutschen bleiben. „Was die Geisteswissenschaften angeht, wird man schlicht sagen dürfen, dass eine Anglisierung einfach nicht eintreten wird, dass sie praktisch gar nicht möglich ist“, schließt der Sprachwissenschaftler Hans-Martin Gauger. V. Zuweilen wird die Anglisierung der deutschen Wissenschaften als teleologischer Prozess dargestellt, der sich mit einer gewissen Zwangsläufigkeit vollziehen muss und nicht ohne Weiteres aufzuhalten ist. Allein unter dieser Prämisse funktioniert das Narrativ vom Untergang der deutschen Wissenschaftssprache. Dabei wird verkannt, dass der Wandel besonders in den Natur- und Ingenieurswissenschaften nicht durch wissenschaftspolitische Initiativen angestoßen wurde. Er ist auch nicht Ergebnis einer „Linguistic Invasion“ der deutschsprachigen Wissenschaftswelt, wie der eingangs zitierte Korrespondent der Times vielleicht schreiben würde. Geradezu albern wirkt es gar, den Wandel auf eine angeblich 1945 einsetzende „Sprachscham der Deutschen“ zurückzuführen, wie es zum Beispiel Jürgen Trabant 2007 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung getan hat. Die weitgehende Ablösung der deutschen Wissenschaftssprache in den Natur- und Ingenieurswissenschaften ist viel mehr die Folge kontingenter Entscheidungen einzelner Wissenschaftler und Publikationsorgane zugunsten der englischen Sprache. Auch in den Geisteswissenschaften kann von Zwangsläufigkeit keine Rede sein. Viel mehr deutet alles darauf hin, dass die deutsche Sprache auch im 21. Jahrhundert ein wichtiges Medium der Geisteswissenschaften bleiben wird. Erstens die Notwendigkeit der Sache: Erkenntnis ist hier stärker sprachgebunden als in anderen Disziplinen. Zweitens die kaum noch zu zählenden Unternehmungen zum Erhalt der deutschen Wissenschaftssprache, teilweise initiiert von besorgten Wissenschaftlern, teilweise von den in der Einleitung kritisierten Pflegern der deutschen Alltagssprache. Doch nicht aus National- oder Sprachstolz, weniger aus emotionaler Verbundenheit, sondern aus Vernunftgründen lässt sich zu der Erkenntnis kommen, dass die deutsche Wissenschaftssprache ein schützenswertes Gut ist. Denn ihr Verschwinden führt dazu, dass keine neuen Terminologien mehr entwickelt werden und die deutsche Sprache erst als Medium der fachwissenschaftlichen Kommunikation, später als Medium der Wissenschaftsvermittlung, d.h. der Lehre und der Popularisierung von Wissenschaft, unbrauchbar werden muss. So vergrößert sich die Kluft zwischen Fachleuten und Laien; die gesellschaftliche Teilhabe an wissenschaftlichen Prozessen wird durch sprachliche Unzugänglichkeit verhindert. Oder anders gewendet: Ein Bedeutungsverlust der deutschen Sprache in den Geisteswissenschaften führt zu einem Bedeutungsverlust der Geisteswissenschaften in der Gesellschaft.