Drakon und das drakonische Urteil der Nachwelt

 

 

"Musikindustrie fordert drakonische Strafen für Raubkopierer" - "Drakonische Strafen für Hundekot-Schmutzfinke gefordert" - so oder ähnlich floskeln routinierte Journalisten, wenn irgendwo der Ruf nach harten Strafmaßnahmen zur Ahndung eines dringlichen Ärgernisses laut wird. Doch worum geht es dabei eigentlich?

Erstellt von tolle et lege vor 12 Jahren

Was unser heutiger Sprachgebrauch mit dem Bild der "drakonischen Strafen" ausdrücken möchte, läßt sich relativ klar umreißen. Gemeint sind Strafen, deren Härte das von der Allgemeinheit als üblich empfundene Maß übersteigt, und zwar - im hier vorliegenden Falle - aus öffentlichkeitswirksamen Gründen. Die zuständige Instanz bleibt dabei (in einem Rechtsstaat wie dem unseren) an die obere Grenze des Strafmaßes gebunden, die von den rechtlichen Bestimmungen vorgegeben wird. Sie schöpft diese Grenze jedoch voll aus, um auf solche Weise nicht nur ein Vergehen oder Verbrechen zu ahnden, sondern zugleich ein Signal an die Öffentlichkeit zu senden. Dies mag vordergründig darauf abzielen, ein abschreckendes Beispiel zu statuieren und die Hürde für potentielle Täter von vornherein besonders hoch zu legen. Hintergründig greift es die Emotionen der Öffentlichkeit auf. Es will, etwas überspitzt formuliert, das Bedürfnis nach "Rache" und damit verbundener gesellschaftlicher Reinigung befriedigen - oder, wie im Falle der Musikindustrie, ein handfestes materielles Interesse, dessentwegen der Fall überhaupt in die Öffentlichkeit lanciert wurde.

Warum aber bezeichnen wir diese Art der Bestrafung als "drakonisch"? Zum Namensgeber wurde hier der legendäre griechische Gesetzgeber Drakon. Der Überlieferung zufolge war er es, der um 620 vor Christus als erster Athener Gesetze in schriftliche Form brachte. Spätere Quellen berichten, daß dieses Gesetzeswerk von äußerster Härte gekennzeichnet gewesen sei. Als einzig gültige Strafe habe Drakon die Todesstrafe anerkannt und diese gleichermaßen für Mord wie für den Diebstahl von Feldfrüchten, ja sogar für Müßiggang verhängt. Auf diese Einseitigkeit angesprochen, habe er geantwortet, er habe für die niedrigen Vergehen die Todesstrafe für angemessen gehalten und für die schwereren Vergehen keine härtere Strafe mehr zur Verfügung gehabt. Sprichwörtlich wurde die Aussage, er habe seine Gesetze nicht mit Tinte, sondern mit Blut niedergeschrieben.

Von Drakon selbst sind keinerlei direkte Zeugnisse überliefert. Wir wissen nicht einmal, ob er tatsächlich gelebt hat, oder ob es sich um eine spätere Legendenbildung handelt. Der Name "Drakon" könnte vom griechischen Wort für "Schlange" abgeleitet sein, was manche Forscher zu der Überlegung führte, der Name Drakon gehe auf eine heilige Schlange zurück, ein Kriechtier, ein Erdsymbol also. Erst später, als das schriftliche Verfassen von Gesetzen bereits zum Repertoire menschlicher Erfahrung gehörte, habe man sie "vermenschlicht" und auf diese nun menschliche Figur eben jene Vorstellungen übertragen, die man vom archaischen Recht hatte – die Vorstellung noch unzivilisierter Grausamkeit, von der sich die Entwicklungen späterer Epochen als fortschrittlich abgrenzen ließ.

Der früheste Hinweis auf Drakon, den wir besitzen, stammt aus dem späten 5. Jahrhundert vor Christus. Er unterscheidet sich von allen späteren Quellen insofern, als es sich um die direkte Wiedergabe eines Gesetzestextes handelt und nicht, wie etwa in später verfaßten Gerichtsreden, um eine bloße Bezugnahme darauf. Es handelt sich um eine mit Inschriften versehene Steinplatte, eine Stele. Die eingravierten Schriftzeichen sind stark verwittert, nur die ersten gut 50 Zeilen konnten in mühevoller Kleinarbeit entziffert oder mit Hilfe späterer Quellen rekonstruiert werden. Die Einleitung der Inschrift macht selbst Angaben darüber, unter welchen Umständen sie erstellt wurde. Die Namen der zum Entstehungszeitpunkt regierenden höchsten Amtsträger werden genannt, woraus wir schließen können, daß die Stele um 409 oder 408 vor Christus entstanden ist. Außerdem werden die an der "Auftragsvergabe" beteiligten Politiker und Amtsträger erwähnt sowie der Ablauf des Vergabeverfahrens beschrieben - man vergegenwärtige sich, daß zu dieser Zeit eine solche Stele kostbar und der auf ihr beschriebene Gesetzestext ein Ausdruck kultureller Größe war, auf die die Athener sicherlich stolz waren. Ein wichtiger Hinweis zum Inhalt der Inschrift wird auch gegeben: Bei dem niedergeschriebenen Ausführungen handle es sich um "das Gesetz Drakons über den Mord".

Darauf folgt der eigentliche Gesetzestext, der uns im Folgenden einige Rätsel aufgeben wird. Beginn und Aufbau wirken zunächst etwas unvermittelt. Als erstes wird darauf hingewiesen, daß auch Personen, die unbeabsichtigt getötet haben, die Flucht ergreifen sollen. Dann werden geistiger Urheber und Ausführer eines Tötungsdelikt für gleichermaßen schuldig erklärt. Es wird eine Art "Verfahren" beschrieben, wie von staatlicher Seite die Schuld festgestellt und verkündet werden soll. Ein längerer Abschnitt befaßt sich mit der Frage, wer einen Täter begnadigen kann; dieses Recht wird den näheren männlichen Angehörigen des Opfers, oder, falls diese nicht vorhanden sind, Angehörigen seines politisch-sozialen Verbundes zugesprochen. Bemerkenswert ist, daß die Gültigkeit des Gesetzes auch auf früher geschehene Tötungsdelikte ausgeweitet wird. Desweiteren sollen (gemeint ist wohl: falls keine Begnadigung stattfindet) die Angehörigen des Opfers dem Täter ihr Racheansinnen öffentlich ankündigen, wobei der Kreis der zur Rache berechtigten Personen begrenzt wird.

Die darauf folgenden Ausführungen sind nur fragmentarisch zu entziffern. Es gibt eine Passage, derzufolge jemand, der einen Mörder tötet oder töten lässt, obwohl dieser sich in der Verbannung aufhält und sich auch nicht bei öffentlichen Veranstaltungen außerhalb Athens, wie etwa Wettkämpfen oder Opferfesten, zeigt, ebenfalls schuldig sein soll. Hingegen soll derjenige, der in unmittelbarer Notwehr (d.h. zur Abwehr eines Angreifers oder - wie sich aus späteren Quellen rekonstruieren läßt - eines auf frischer Tat ertappten Diebes oder Ehebrechers) einen Menschen tötet, straffrei ausgehen.

Gemeinsam ist all diesen Gesetzen, daß sie um die Frage kreisen, wie innerhalb des athenischen Gemeinwesens mit Tötungsdelikten umgegangen werden soll. Entgegen der Erklärung der Einleitung ist jedoch nicht vorsätzlicher Mord, sondern unbeabsichtigte Tötung ihr Hauptthema. Es stellt sich die Frage, was in den verlorengegangenen Teilen der Inschrift festgehalten wurde. Da der Text zudem so unvermittelt beginnt (im Altgriechischen mit dem Wort "und"), haben manche Forscher angenommen, schon bei der Niederschrift sei hier die ältere Vorlage des Textes - womöglich aus Drakons Zeiten stammend - gekürzt worden. Leider geht es uns damit genau so, wie es den Altertumswissenschaftlern sehr oft geht: Es läßt sich viel intellektueller Ehrgeiz in schlüssige Erklärungsversuche stecken. Der Wahrheit kommen wir jedoch nicht näher, falls sich nicht wider Erwarten eines Tages neue spektakuläre Quellenfunde auftun.

Die Bedeutung der Gesetze selbst erhellt sich immerhin ein wenig, wenn man sie vor ihrem historischen Hintergrund zu betrachten versucht. Dieser Hintergrund ist zum einen die archaische griechischen Gesellschaft mit ihren spezifischen gesellschaftlichen Normen und Regeln. Was den Umgang mit Bluttätern anging, so bestand zu Drakons Zeit das Recht und die Pflicht der Verwandten, die Tötung eines Angehörigen durch Blutrache, also die Tötung des Täters, zu sühnen - ein Vorgang, der sich übrigens bis heute in manchen Regionen Südosteuropas als Tradition erhalten hat und z.B. durch Berichte aus Albanien wie auch einzelne Fälle meist kurdischer Familienfehden in Deutschland bekannt ist. Die Tatsache, daß das Gesetz zumindest in den erhaltenen Teilen nur für unbeabsichtigte Tötung spezifische Regelungen kennt und mit diesen auch beginnt, läßt vermuten, daß für beabsichtigte Tötung das den Zeitgenossen bekannte Blutrache-Verfahren uneingeschränkt weiter gelten sollte, während sich für unbeabsichtigte Tötung Neuerungen ergeben haben, die festzuhalten sind.

Zum anderen haben Forscher auf die konkrete historische Situation der vermutlichen Entstehungszeit des Gesetzes hingewiesen. Der Überlieferung zufolge hatte um 630 der Olympiasieger Kylon versucht, durch Besetzung der Akropolis eine Tyrannis zu errichten, war damit jedoch gescheitert. Die Akropolis wurde von einer Bürgerwehr belagert, Kylon und seine Anhänger suchten Schutz am Altar der Athene. Ihnen wurde zugesichert, nicht getötet zu werden, falls sie den Ort verließen. Als sie auf das Angebot eingingen, geschah jedoch genau dies, sie wurden von der Menge niedergemetzelt. Das Ereignis wurde von Zeigenossen als großer Frevel wahrgenommen.

In der Folgezeit könnten nun besonders viele Adelsfamilien in Blutfehden verwickelt worden sein, die auf eben dieses Ereignis zurückgehen. Ein Bemühen um Schadensbegrenzung in Form des vorliegenden Gesetzes würde sich sinnvoll in dieses Bild einfügen. Indem z.B. das Begnadigungsverfahren genau geregelt wurde, konnten sich ehemalige Täter ermutigt fühlen, ein solches Verfahren vom Ort ihrer Verbannung aus anzustreben und zurückzukehren. Auch die Beschränkung des Kreises der zur Rache berechtigten Personen und das Verbot, Bluttäter zu töten, die sich ordnungsgemäß in der vorgeschriebenen Verbannung aufhalten, paßt in dieses Schema.

Wie hat nun aber der Name Drakon seine heutige negative Konnotation erhalten? Zumindest bei Zeitgenossen derer, die Drakons Gesetz in Stein meißelten, scheint Drakon noch in gutem Ruf gestanden zu haben, denn die Stele aus dem späten fünften Jahrhundert entstand zu einem Zeitpunkt des politischen Umbruches, an dem man sich auf die "guten" Gesetze der Alten zurückbesinnen wollte und diese systematisch zusammentrug. Bei spätere antiken Autoren veränderte sich das Bild. Aus der Tatsache, daß Drakons Gesetz dem Mörder eines Diebes oder Ehebrechers Straffreiheit gewährt, schlossen sie, daß Drakon diese "Todesstrafe" generell für angemessen für solcherlei Verbrechen hielt. Von da an verdichtet sich der Topos des "grausamen" Drakon. Vor allem Gerichtsredner wußten ihn geschickt für ihre Argumentation zu nutzen. Auch antike historische Abhandlungen integrierten ihn in einen für sie schlüssigen Erzählstrang, der dem Quellenbefund - dem Gesetz über Tötungsdelikte als einziger Überlieferung - Rechnung trägt. Der Gesetzgeber Solon, der nur etwa eine Generation nach Drakon lebte, habe dereinst das gesamte, angeblich umfangreiche Gesetzeswerk des Drakon aufgrund seiner Grausamkeit abgeschafft, mit Ausnahme des Gesetzes über Tötungsdelikte.

Wie wir gesehen haben, liegt das heutige Reden über "drakonische Strafen" auf einer Traditionslinie, die sich vermutlich vom historischen Befund bereits in der Antike weit entfernt hatte. Und wie das Wissen über Drakon heute aus dem öffentlichen Bewußtsein weitgehend verschwunden ist, so haben auch die Maßnahmen gegen uneinsichtige Musikliebhaber und Hundebesitzer mit dem in Stein gemeißelten "drakontischen Gesetz", wie es Historiker heute lieber nennen, nur noch den vagen Bezug auf das Phänomen gesellschaftlich ge-oder verordneter Rache gemein.

Verwendete Literatur:

Koerner, R., Inschriftliche Gesetzestexte der frühen griechischen Polis. Aus dem Nachlaß hg. v. K. Hallof, Köln, Weimar, Wien 1993 (Akten der Gesell­schaft für griechische und hellenistische Rechtsge­schichte, 9), Nr. 11

Gagarin, M., Early Greek Law, Berkeley, Los Angeles, London 1986

Humphreys, S., A Historical Approach to Drakon’s Law on Homicide, in: Symposion 1990. Vorträge zur griechischen und hellenistischen Rechtsgeschichte, hg. v. M. Gagarin, Köln 1991 (Akten der Gesellschaft für Griechische u. Hellenistische Rechtsgeschichte, 8), S. 17 ff.

Ruschenbusch, E., FONOS. Zum Recht Drakons und seiner Bedeutung für das Werden des athenischen Staates, in: Historia 9, 1960, S. 129 ff.

Schmitz, W., "Drakontische Strafen". Die Revision der Gesetze Drakons durch Solon und die Blutrache in Athen, in: Klio 83, 2001, H. 1, S. 7 ff.

Tulin, A., Dike Phonou. The Right of Prosecution and Attic Homicide Procedure, Stuttgart/Leipzig 1996 (Beiträge zur Altertumskunde, 76), S. 7 ff.

 

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