El Corredor / Kapitel VII
»Ich hätte es nicht besser treffen können«, dachte Marc im Laufen. Er hatte den Anstieg so schnell geschafft wie noch nie. Sein Pulsmesser, der einzige technische Luxus, den er aus Wien mitgenommen hatte, zeigte an, dass alles normal war. Frequenz: 158 Pulsschläge in der Minute. Wenn nur sein Kopf ... oder vielmehr dessen Inhalt ... auch immer so leicht auszurechnen wäre wie sein Herzschlag.
Marc trank den letzten Rest Wasser. Vor ihm lag die vorletzte Etappe seiner Pista. Ein Weg, der am Fuß eines lang gezogenen Hügels wie eine Zierleiste entlang lief und auf halber Strecke von Buschwerk und sogar einigen Bäumen gesäumt wurde.
Einige der Büsche hatten Stacheln, die so lang waren wie Marcs Finger. Er hatte ähnliche Büsche Jahre zuvor in Nordafrika gesehen. Am Rand einer tunesischen Oase, wo sie Halt gemacht hatten. Aus einigen Metern Entfernung hatten sie mit ihren von Tausenden sanft-blauen Blüten geschmückten Ästen einen zierlichen Eindruck gemacht. Erst aus der Nähe offenbarten sie ihren wehrhaften Charakter.
Die Büsche hier hatten keine Blüten. Diego hatte ihm erklärt, sie würden nur im Frühjahr für rund zwei Monate blühen. Den Rest des Jahres standen sie mit ihren fingernagelgroßen Blättern und ihren Minilanzen da. Bereit zu einem Turnier, das nie stattfand. Es sei denn, ein unvorsichtiger Fußgänger würde sich in ihren biegsamen Zweigen verheddern.
Eine leichte Anhöhe gab für einen kurzen Moment den Blick auf Mas de Colón frei. Als er das erste Mal hier herauf gekommen war, hatte Marc in der Dämmerung das Haus übersehen. Manchmal schien es ihm, als ob ihn so etwas wie blindes Vertrauen dorthin gelenkt hätte.
Er wusste nicht einmal, was es gewesen war, das ihn veranlasst hatte, von Molineros Olivenhain weiterzulaufen ins Landesinnere. Für Felix hatte die Welt am Rande von Turón wohl aufgehört zu existieren. Er hatte nie etwas über die Sierra gesagt ... und das war schon beinahe eine Kunst für einen redseligen Kerl wie Felix, dem sonst auch zu Allem und Jedem etwas einfiel. Vielleicht war es aber gerade das gewesen? Wo es für Felix nichts gab, worüber man schnattern konnte, mochte ihm die Welt wohl wirklich nichts Reizvolles mehr bieten. Kein Wunder also, dass hier sogar die Wegweiser fehlten.
Marc fiel ein, dass ihm bei seiner ersten Wanderung in der Sierra nicht nur die Dornenbüsche aufgefallen waren, die ihn an seinen Aufenthalt in Tunesien erinnert hatten, sondern auch die Stille. Er hatte sich an eine seiner faszinierendsten Erfahrungen erinnert gefühlt. Auf einer Sanddüne am Rande der Sahara zu sitzen, umfangen von absoluter Stille. Keine Stimmen, kein Motorengeräusch, kein Vogelgezwitscher, keine Bäume deren Blätter im Wind rauschten. Nichts! Absolut Null. Er war mindestens eine Stunde dort gesessen und seinen Gefühlen nachgehangen. Irgendwann hatte es aufgehört, in ihm zu arbeiten. Kein Gedanke mehr, der rumorte, kein Wunsch mehr, den zu wünschen es sich lohnte.
Er erinnerte sich, dass er es, als er damals aufbrach, vermieden hatte, auf die Uhr zu sehen. Er hatte dieses Nichts nicht messen, mit nichts füllen wollen. Kein Bild, das er je zuvor gesehen hatte, auch nicht die vollkommenste Musik, hätte entsprochen. Er, dem sonst immer ein passendes Stück einfiel, hatte keine Melodie in sich, hatte nichts weggetragen außer seinem ganz persönlichen Nirwana.
Hier oben war das manchmal auch so. Marc kannte die Sierra inzwischen ganz gut. Es gab nur wenige Schlupfwinkel, die er noch nicht erkundet hatte. Ein paar Mal waren sogar Diego und Roca ein kurzes Stück mit ihm gewandert. Meistens war er jedoch alleine unterwegs. Auch wenn er sein beinahe tägliches Lauftraining sehr ernst nahm und zahllose Kilometer abspulte, nahm er sich immer wieder Zeit, an jenen Plätzen zu pausieren, die seinem Ideal am nächsten kamen.
Zu Beginn hatte er versucht, sein Sahara-Gefühl zurückzuholen. Ein paar Mal hatte ihn ausgerechnet dabei, beim Versuch, sein Nirwana in Erinnerung zu rufen, der Husten überrascht. Wie eine Eindringling war er sich vorgekommen, ein Vandale und Ruhestörer, als er die Natur lauthals keuchend und bellend auf seine Anwesenheit aufmerksam machte. Irgendwann war er dahinter gekommen, dass er noch viel zu beschäftigt war mit seinen Problemen; und vor allem, dass man das Nichts nicht herbeizitieren konnte.
Etwas zuzulassen, einfach zu warten, das hatten die meisten Menschen wohl verlernt. Damit hatte er sich getröstet, und dass schon viel klügere Menschen mit ihrer »Es muss etwas getan werden«-Attitüde auf den falschen Gaul gesetzt hatten. Fighting for peace, is like fucking for love – für den Frieden in die Schlacht zu ziehen war genau so unsinnig, wie auf der Suche nach der großen Liebe von einem One-Night-Stand zum nächsten zu japsen. Letzteres hatte allerdings den entschiedenen Vorteil, dass man dabei mehr Menschen kennen lernte als beim Wichsen.
Marc verscheuchte den Gedanken an Sex ... wohl eine Nachwirkung seines heutigen Aufeinandertreffens mit der braunhaarigen und schmalgesichtigen Frau in der Caja Regional; er versuchte es vielmehr. Es wollte ihm nicht wirklich gelingen. Das hatte man davon. Schmalspurphilosophie unter spanischer Sonne! Führte die öfters zum Hormonstau?
Er nahm sich vor, Diego zu fragen, wie er damit umging. Immerhin lebte der ja schon dreißig Jahre allein auf dem Mas de Colón. Gesteigerte Zuneigung zu seinen Ziegen oder Schafen legte der gute Diego auch nicht an den Tag. Er hatte Marc in punkto asketischer Lebensweise also scheinbar etwas voraus.