Friedhofskultur Südtirol
Friedhof in St. Pankraz. Eine steinerne Trutzburg sichert die Totenruhe
Liebhaber zeitgenössischer Architektur kommen in Südtirol auf ihre Kosten. Eine Spezialität des Landes sind hierbei Friedhöfe.
Was macht sie hier so interessant? Und was ist anders als in Deutschland?
„Friedhöfe zu planen war nie mein Ziel, ich kam damals zufällig zum Auftrag in St.Pankraz, die anderen waren Folgeaufträge, mein erster gefiel den Leuten offensichtlich recht gut...“(Willy Gutweniger, Architekt des Friedhofs St. Pankraz)
Waren Sie schon einmal in Südtirol? Die alpine Region in Italien erfreut sich wachsender Beliebtheit bei Touristen. Im Tourismusjahr 2014/2015 zählten die südtiroler Betriebe 6,4 Millionen Gäste, was einem Plus von 5,2 % im Vergleich zum Vorjahr entspricht. Mit 48,7% kam fast jeder zweite Besucher aus Deutschland, 1,1% mehr als noch im Jahr zuvor.i Geschätzt wird die Region - natürlich nebst der Deutschsprachigkeit – vor allem für die atemberaubende Landschaft, im Winter als Skigebiet und im Sommer für Ferien auf dem Bauernhof. Auch ist Südtirol eines der größten Weinanbaugebiete Europas und Heimat des Gewürztraminers. Seit geraumer Zeit etabliert sich die Gegend jedoch auch als Dorado für Architekturliebhaber. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang die Architekturstiftung Südtirol, welche sich dafür stark macht, das Land mit qualitativen Bauwerken aufzuwerten. Die Spanne reicht von Werken international berühmter Stararchitekten bis zu zahllosen kleineren Projekten der regional bekannten Büros. Bauwerke, wie das Messner Mountain Museum Corones von der jüngst verstorbenen Zaha Hadid, wirken als Tourismusmagneten. Die traditionellen Weingüter nutzen vermehrt spektakuläre Neubauten als architektonische Visitenkarten. Corporate Identity lautet die Devise. Doch seit einigen Jahren machen die örtlichen Architekten sich ein neues Betätigungsfeld zu eigen: Die Friedhöfe. Ganz richtig, Friedhöfe.
Seit der Jahrtausendwende sind in Südtirol zahlreiche – vor allem dörfliche –Friedhöfe umgebaut oder erweitert worden. Bei vielen ortsansässigen Büros finden sich solcherlei Projekte in den Referenzen. Die Friedhöfe – in Südtirol oft auch als Kirchhöfe bezeichnet - sind eines der Aushängeschilder der jeweiligen Gemeinde. Quasi Corporate Identity auf kommunaler Ebene. Generell lässt sich feststellen, dass die Südtiroler zu ihren Friedhöfen eine ganz andere Beziehung pflegen, als wir Deutschen, sowohl baulich als auch kulturell. Treffend formuliert wird das dortige Friedhofsverständnis im ersten Satz der Friedhofsordnung der Gemeinde Jenesien. Dieser lautet: „Der Friedhof ist ein wesentlicher Teil der örtlichen Gemeinschaft und prägt das Bild der Gemeinde mit; er spiegelt die Liebe der Hinterbliebenen für ihre Verstorbenen wieder und gibt Aufschluss über das religiöse und kulturelle Empfinden der Gemeinschaft“. Um die Besonderheiten der Kirchhöfe südtirols verstehen zu können, ist ein erweiterter Blick nach Deutschland notwendig. Urlaub auf dem Friedhof klingt erstmal nicht typisch deutsch. Vielmehr verursacht der Gedanke daran vielen von uns Befremden. Konfrontationen mit dem Tod versuchen wir eher aus dem Weg zu gehen. Wer spricht schon gerne über den Tod, geschweige denn macht sich darüber Gedanken? Vor allem wenn es den eigenen Tod betrifft. So scheint es nicht weiter verwunderlich, dass laut einer Umfrage im Auftrag der Stiftung Aeternitas 24% der Deutschen angeben, sich noch nie überlegt zu haben, wie sie bestattet werden möchten. Jeder Fünfte gibt an, die Entscheidung darüber den Angehörigen überlassen zu wollen.ii Die Ursache für dieses Verdrängen lässt sich in den gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte ausmachen. Hans-Kurt Boehlke griff dies in seinem 1974 erschienenen Buch „Friedhofsbauten“ bereits auf. „Der Mensch wird heute fast ausnahmslos in der Klinik geboren – nicht zu Hause im Kreis der Familie – und sein Leben endet zumeist ebenfalls in der Klinik oder der Pflegestation des Altenheimes. Nicht nur die Friedhöfe werden an den Rand der Siedlungen, sondern auch das Sterben, der Tod schlechthin, wird an den Rand des Bewusstseins gedrängt.“iii , lautet dort die Erklärung. Der alte lateinische Ausspruch „Memento Mori“ verliert zusehends an Bedeutung. Der damit einhergehende Wandel der Bestattungskultur in Deutschland ist nicht weiter überraschend. Daher verdient letztere ebenfalls eine genauere Betrachtung. Der Begriff Friedhof leitet sich etymologisch nicht etwa von dem Frieden ab, der dort herrscht und in dem die Toten ruhen, sondern er bezeichnet einen umfriedeten, also mit einer Mauer umschlossenen Bereich. Historisch gesehen lagen auch in Deutschland die Friedhöfe rund um die Kirchen, die Kirchhöfe waren tatsächlich in aller Regel mit einer Mauer versehen. Als die Gemeinden anwuchsen und die Kirchhöfe als Begräbnisstätte oft nicht mehr ausreichten, entstanden zahlreiche eigenständige Friedhöfe. Die Umfriedung blieb. Jedoch wurden die ursprünglichen Mauern später gerne durch Zäune oder Hecken ersetzt. Kirchhöfe finden sich zumeist nur noch in sehr kleinen Ortschaften, die in den letzten Jahrzehnten kaum gewachsen sind. Neue Friedhöfe, egal ob in Städten oder auf dem Land, wurden in aller Regel an den Ortsrand verlegt, da sich in den Ortskernen meist nicht genügend Platz fand. In Städten ist dies jedoch weniger auffällig, da sie in der Nachkriegszeit häufig wieder um die Friedhöfe herum gewachsen sind. In zahlreichen Fällen wurden die Friedhöfe sogar weitab der eigentlichen Ortschaft angelegt. Als Beispiel sei der Ort Eixe im Landkreis Peine angefügt, wo sich der Friedhof etwa 500 Meter von den letzten Häusern in der Feldmark befindet, unmittelbar und nicht gerade idyllisch an der sechsspurigen A2. Trotz Lärmschutzwänden kann von einem Ort der Ruhe nicht die Rede sein. Die oft dezentrale Lage und die Umfriedung sorgen dafür, dass das Betreten eines ländlichen Friedhofs in den allermeisten Fällen zweckgebunden ist. Man sucht ihn auf, um die Ruhestätten der Angehörigen zu besuchen und zu pflegen, oder bestimmt auch mal aus Neugier. Aber eben nicht beiläufig, weil der kürzeste Fußweg durch das Dorf über den Friedhof führt. Die Einrichtung neuer Friedhöfe im ländlichen Bereich ist in Teilen eine Konsequenz aus dem Zweiten Weltkrieg. Durch die Aufnahme Vertriebener aus den deutschen Ostgebieten wuchsen viele Ortschaften stark an. So entwickelte sich in der Wirtschaftswunderzeit ein regelrechter Bauboom an Sakral- und Friedhofsarchitektur. Nebst unzähligen neuen Kirchenbauten entstanden in den 1960er bis 1980er Jahren auf nahezu jedem Dorffriedhof neue Aussegnungshallen. Bis dahin übernahmen noch oft die Kirchen deren Funktion. Jedoch sind die meisten dieser Bauten nur wenig bemerkenswert und orientieren sich an der klassischen Wohnhausarchitektur. So findet man nicht selten Klinkerhäuschen mit Satteldächern und Sprossenfenstern. Auch bediente man sich bisweilen an Typenarchitektur. So kommt es, dass die Friedhöfe der Ortschaften Plockhorst, Eickenrode, Blumenhagen und Mödesse im Landkreis Peine nahezu baugleiche Aussegnungshallen besitzen. Die logische Konsequenz aus diesem Bauboom der Nachkriegszeit ist natürlich, dass der Markt für Sepulkralarchitektur irgendwann gesättigt war. In den letzten Jahren bestand in Deutschland kaum Bedarf an neuen Friedhofsbauten, oder gar an neuen Friedhöfen. Zwar wird es in den nächsten Jahren wieder eine leicht steigende Nachfrage geben, da einige Aussegnungshallen der Nachkriegszeit mittlerweile wieder baufällig geworden sind. Einige davon werden sicherlich in absehbarer Zukunft wiederum durch Neubauten ersetzt werden. Komplett neue Friedhöfe werden aber eher Einzelfälle bleiben. Ein solcher ist der neue Friedhof im bayrischen Mömbris. Eine ungestaltete Rasenfläche, umgeben von einem grünen Maschendrahtzaun, die sich auf einer Anhöhe am Rande eines Neubaugebietes am Rande des Dorfes befindet. Es macht manchmal den Eindruck, als wolle man den Leuten abgewöhnen, auf den Friedhof zu gehen. Der ältere Friedhof, der sich mitten im Ortskern neben dem Schulzentrum befindet, wird jedoch auch weiterhin belegt. Der Grund, warum neue Friedhofsanlagen auch in Zukunft die Ausnahme bleiben werden, liegt in der deutschen Bestattungskultur selbst. Der Trend geht in den letzten Jahren immer mehr zu pflegefreien, beziehungsweise alternativen Bestattungsformen. Eine Umfrage im Auftrag der Gesellschaft Aeternitas hat ergeben, dass sich nur noch 24% der Deutschen ein klassisches Erdgrab wünschen, was im Vergleich zu 2013 einen Rückgang um 5% bedeutet. Der Anteil liegt nur noch knapp über dem der Urnengräber, welcher aktuell bei 19% liegt. Ebenso viele Deutsche bevorzugen mittlerweile eine pflegefreie Urnenbestatttung außerhalb eines Friedhofs, 4% mehr als noch vor drei Jahren.iv Friedwälder finden immer mehr Zuspruch. Verursacht wird diese Entwicklung durch die Veränderungen in der Gesellschaft. Die Mitglieder der jeweiligen Familien bleiben nicht mehr im Geburtsort, sondern leben häufig mit großer räumlicher Distanz zueinander in verschiedenen Regionen. Man sucht Arbeit in den Großstädten, Arbeitgeber verlangen Flexibilität, auch im Bezug auf einen Wohnortwechsel, oder man verlässt die Heimat für eine Beziehung. Man lernt sich eben nicht mehr beim Tanz im Dorfgasthaus kennen, sondern eher beim Studium oder im Internet. Außerdem spielt die seit Jahren steigende Scheidungsrate eine Rolle, immer mehr Ehen gehen in die Brüche, auch bei Paaren, die schon lange verheiratet waren. Dadurch stehen immer mehr Menschen im Alter alleine da, Altersarmut steigt ebenso beständig an. So stellen sich mehr ältere Menschen im Bezug auf die Grabwahl die berühmte Frage „Wer soll sich denn darum kümmern?“. Natürlich ließe sich auch ein normales Erdgrab pflegefrei gestalten, zum Beispiel durch Abdeckung mit Gruftplatten oder eine Zierkiesschüttung. Nur sind solche Grabmäler nicht gerade unbedingt ein Schnäppchen. „Das ist doch nur für die Leute“, heißt es dann meist lapidar, wenn man darauf hinweist, dass ein pflegefreies Grab nicht unbedingt nur als Rasenbestattung oder an Urnengemeinschaftsanlagen geht.
Die Bereitschaft, viel Geld für die Bestattung in die Hand zu nehmen schwindet mehr und mehr. Die Zeiten, in denen man sich mit der Größe des Grabmals gegenseitig übertrumpfen wollte, sind jedenfalls lange vorbei. Geiz ist halt immer noch geil. So kommt es, dass auch in ländlichen Gegenden vermehrt Urnengemeinschaftsanlagen oder Bestattungen unter dem grünen Rasen angeboten werden, wobei solche Grabfelder in der Regel recht ungepflegt wirken. Und dass der Friedhofsgärter mit dem Aufsitzmäher über die Gräber und die im Rasen eingelassenen Steine brettert, unseren Urahnen hätten sich beim Gedanken daran wahrscheinlich die Nackenhaare zu Berge gestellt. Deutschlandweit gibt es jedoch auch starke Unterschiede, der Anteil an Urnenbestattungen ist in den Großstädten um einiges höher, als auf dem Land und im Norden größer als im Süden. In Berlin liegt er bei etwa 72%, in München hingegen nur bei 55%. In katholisch geprägten Landstrichen bevorzugen die Menschen noch häufiger die traditionelle Erdbestattungv. Die katholische Kirche gestattet ihren Mitgliedern erst seit 1964 sich einäschern zu lassen, nachdem dies 1886 päpstlich verboten wurde. Bei Zuwiderhandlung drohte der Ausschluss von kirchlichen Sakramentenvi. Die Feuerbestattung, die zum Brauchtum der germanischen, heidnischen Völker gehörte, galt als unchristlich. Zudem war die Verbrennung im Mittelalter ja auch eine verbreitete Hinrichtungsmethode und somit wurden Feuerbestattungen für fromme Christen als völlig unwürdig erachtet.
Urnenbeisetzungen konnten in Bayern lange Zeit nicht richtig Fuß fassen. Dies mag auch daran liegen, dass diese zuerst in Preußen durchgeführt wurden und preußische Ideen in Bayern nie übermäßigen Anklang gefunden haben. Wenn auch vielleicht nicht in dem Maße wie in Norddeutschland, wird aber auch hier der Ruf nach pflegearmen Beisetzungsformen allmählich lauter. Und da die Friedhöfe nunmal auf die Interessen der Leute reagieren müssen, werden überall Ideen für alternative und pflegefreie Grabformen entwickelt. Im niedersächsischen Schöningen werden die Bäume auf dem Friedhof seit geraumer Zeit als Bestattungsort für Urnen genutzt, quasi als Mittelweg zwischen Friedhof und Friedwald. Kleine Metallplaketten mit den Namen der Toten werden am Baumstamm angebracht. In Gifhorn gibt es ein Gräberfeld, das völlig der Natur überlassen wird. Hier liegen kleine Grabsteine, alles Findlinge, im hohen Gras und unter Baumschösslingen, ein Rückschnitt der Vegetation unterbleibt weitestgehend. Diese Abkehr vom klassischen Sarggrab bedeutet für Friedhöfe in Deutschland einen immer geringeren Platzbedarf. Anstatt dass man sich über Erweiterungen oder Neubauten Gedanken machen muss, befinden sich die Bergräbnisstätten eher in einem Schrumpfungsprozess. Wenn ältere Grabmäler nach Ablauf der Ruhezeit eingeebnet werden, entstehen immer mehr Freiflächen, die nicht selten brach liegen bleiben. Es sei denn, man legt dort neue Abteilungen mit zeitgemäßen Bestattungsformen an. Auch wenn den Friedhöfen die Bedeutung als Ort der Trauer und der Grabpflege langsam abhanden kommt, bleibt gerade in den Städten eine zweite, vielleicht genauso wichtige Funktion. Nämlich die als Erholungsgebiet, oder neudeutsch ausgedrückt, als grüne Oasen. Schon in früheren Zeiten zeigten sich für die Friedhofsplanung weniger die Architekten, als die Landschaftsgestalter verantwortlich. Im Gegensatz zu den oft vegetationsfreien Friedhöfen des Mittelmeerraumes, die für uns eher nackt und kahl wirken, sind deutsche Friedhofsanlagen nicht selten mit recht dichtem Bewuchs in parkähnlicher Gestaltung versehen. Sie bieten bisweilen eine erstaunliche Artenvielfalt an Pflanzen und Tieren. So kann man auf dem Hauptfriedhof in Wolfenbüttel mit etwas Glück Eichhörnchen, Enten, Grünspecht und sogar Feldhasen beobachten. Gepaart mit der dort herrschenden Ruhe können Friedhöfe somit einiges an Aufenthaltsqualität bieten. Der erste schon erwähnte Satz der jenesiener Friedhofsordnung lässt vermuten, dass man in Südtirol zum Thema Friedhof bisweilen eine andere Beziehung pflegt. Der Friedhof wird fast schon als ein Wahrzeichen christlicher Kultur dargestellt. Die Älteren von uns mögen sich dadurch schwermütig an frühere Zeiten erinnert fühlen. Vielleicht kann man diesen Stolz, den man in Jenesien hat, nicht auf jeden beliebigen Friedhof in Südtirol übertragen. Gerade in Dörfern scheint es aber so, als würde man diese Meinung durchaus teilen.
Was ist es, das einer Gemeinde ihre Identität schenkt? Zumeist sind es die Kirchen. Sie sind die markanten Gebäude, an denen man schon von weiten die Ortschaften erkennen kann. In südtiroler Dörfern befinden sich die Friedhöfe noch oft an den Kirchen. Diese Kirchhöfe sind mehr als nur eine Begräbnissstätte, man muss sie zwangsläufig überqueren, um zur Kirche zu gelangen und bilden gerne deren Vorplatz. Kirche und Friedhof verschmelzen so zu einer untrennbaren Einheit, sodass der Friedhof selbstverständlich mit zum Wahrzeichen des jeweiligen Dorfes wird. Die Mömbriser Wiese mit dem Maschendrahtzaun schafft das nicht. Die Pfarrkirchen stehen nicht selten auf einer kleinen Anhöhe, wodurch die Kirchhöfe unausweichlich am Hang liegen. Man muss sich die Landschaft formen, um Gräber anlegen zu können, Stützmauern und Terrassierungen prägen seit jeher das Bild. Die Kirche scheint wie auf einem Podest majestätisch über dem Ort zu thronen.
Einen Friedhof zu bauen bedeutet daher natürlich auch mehr Aufwand, als auf dem flachen Land. Der allerdings vielleicht wesentlichste Unterschied zwischen den deutschen Nachkriegsfriedhöfen und den Kirchhöfen Südtirols ist jedoch der Denkmalschutz. Das Ensemble aus Kirche und zugehörigem Friedhof ist in der Mehrheit aller Fälle als Baudenkmal geschützt. Daher erfordert es hier fraglos mehr Fingerspitzengefühl, wenn es darum geht Veränderungen an der Anlage vorzunehmen. Schon allein deshalb gehört hier die Friedhofsplanung zu den Aufgaben der Architekten. Die schon erwähnte Architekturstiftung Südtirol und die örtlichen Denkmalschutzbehörden haben erkannt, dass in solch sensiblen Bereichen auf eine besondere Qualität der Architektur geachtet werden sollte. Wenn also Dorffriedhöfe umgebaut werden sollen, lobt man im Vorfeld regelmäßig Architekturwettbewerbe aus. Wozu jedoch der ganze Aufwand, wenn doch die Friedhöfe eher schrumpfen? In Südtirol sieht das jedoch deutlich anders aus. Erdbestattungen sind hier noch viel weiter verbreitet als in Deutschland, Urnenbeisetzungen bilden eher eine Ausnahme. Urnengemeinschaftsanlagen oder anonyme Bestattung sind hier noch Fremdwörter. 98% der Südtiroler sind bekennende Katholiken. Die christlich konservative Haltung der Gesellschaft spiegelt sich auch in der Bestattungskultur wieder. Und da die Friedhöfe unter Denkmalschutz stehen, können die älteren Gräber auch nicht einfach nach Ablauf der Ruhezeit eingeebnet und neu belegt werden. Sie stehen mit unter Schutz und bleiben erhalten. Daraus ergibt sich zwangsläufig, dass die Friedhöfe erweitert werden müssen, wenn kein Platz mehr vorhanden ist. In den letzten Jahren ist dies bei zahlreichen südtiroler Dorfkirchhöfen der Fall gewesen. Etliche interessante Neubauten sind so entstanden. So viele, dass die Architekturstiftung Südtirol ein ganzes Heft ihrer Zeitschrift „Turris Babel“ den Friedhöfen gewidmet hat, in dem einige gelungene Beispiele vorgestellt werden. Nicht weiter verwunderlich ist daher, dass nahezu alle bekannten Architekten südtirols bereits Friedhofsbauten realisiert haben. Erstaunlich ist, wie viele unterschiedliche Lösungen so entwickelt wurden. Allen gemeinsam ist selbstverständlich eine konsequent moderne, teils schon fast futuristische Formensprache. Die zuständigen Behörden legen darauf auch Wert, fordert doch auch die als Richtlinie für Denkmalschutz geltende Charta von Venedig, dass Ergänzungen oder Anbauten an ein Denkmal sich als zeitgenössische Elemente vom Bestand abheben sollen. Durch die Vergabe in Wettbewerben wird sichergestellt, dass für die jeweilige Bauaufgabe die größtmögliche Qualität erzielt wird. Oder wie es im Einleitungstext im Turris Babel heißt, „genau die Friedhöfe ein bevorzugtes Versuchsfeld der modernen Architektur geworden sind“.vii Individuelle Lösungen lassen sich halt auch nicht mit Produkten von der Stange erreichen. Die Neubauten werden nicht selten zu Identifikationen der Ortschaften, genau wie die Kirchen. Ein hervorragendes Beispiel hierfür ist der Friedhof von St. Pankraz. Im Grunde war man hier der Zeit weit voraus, denn die Planungen für einen größeren Friedhof begannen bereits 1976. Der Kirchhof des 1500-Seelen- Ortes war damals an die Grenzen seiner Kapazitäten gekommen. Dicht von großen, historischen Höfen umgeben ergab sich aber keine Möglichkeit den Friedhof im Ort zu erweitern. So blieb nichts anderes übrig, als einen neuen Friedhof am Rand der Siedlung zu errichten, womit er für südtiroler Verhältnisse völlig aus der Reihe tanzt. Diese typisch deutsch erscheinende Lösung ließ sich aber aufgrund der topografischen Gegebenheiten nicht ohne weiteres umsetzen. Der Ortskern ist von steilen Hängen umgeben und man musste die Landschaft umformen, sie bezwingen, um einen neuen Friedhof anlegen zu können.
Mit der Planung wurde Willi Gutweniger, Jahrgang 1920, beauftragt. Der erfahrene Architekt hatte gut fünf Jahre zuvor mit dem spektakulären Neubau der Pfarrkirche St. Joseph in Algund von sich reden gemacht. „Gott schläft im Stein, atmet in der Pflanze, träumt im Tier und erwacht im Menschen“, lautet ein altes indisches Sprichwort. Stein spielt daher in Gutwenigers Werk häufig eine Rolle, so auch bei der Algunder Kirche, wo die Altarwand mit regionalem Naturstein bekleidet wurde. Und wenn Gott im Stein schläft, was könnte es dann für einen besseren Baustoff für einen Friedhof geben, auf dem die Toten ruhen, bis sie am Jüngsten Tag auferstehen, als eben diesen Stein. Vor allem dann, wenn man sich im Gebirge befindet und Stein im Überfluss vorhanden ist. In Südtirol überwiegend Porphyr und Gneis. Es ist fast mehr eine Festung, als ein Friedhof, was Willi Gutweniger da in St. Pankraz baute. Eine Burg des Todes, die mit ihrer wehrhaftigkeit den Verstorbenen ihre Ruhe sichert. Gewaltige Mauern formen den Hang, ragen bis zu zehn Meter in die Höhe, sie umschließen die gesamte Anlage und bilden Terrassen. Gigantische Mengen an unbehauenem Stein verschlang der Bau. Die einzelnen Blöcke sind ohne Mörtel versetzt, aber gleich einem überdimensionalem Tetris-Spiel so kunstvoll zusammengefügt, dass kaum Hohlräume bleiben. Nur durch das ungeheure Eigengewicht und die perfekte Verarbeitung können die Wände den Abhang stützen. Die verschiedenen Materialien lassen ein malerisches Farbenspiel entstehen, durch die Patina, die sich im Laufe der letzten Jahrzehnte gebildet hat, gewinnen sie noch an Schönheit. Die schroffen Mauern wirken wie aus einer anderen Zeit, man könnte Vermuten, man befände sich in der Ruine einer mittelalterlichen Befestigungsanlage. Und da eine Burg ohne einen Turm nur schwer vorstellbar wäre, ließ Gutweniger an seiner Todesburg auch eben einen solchen errichten. Er befindet sich an der Südwestecke, direkt neben der Eingangshalle und erreicht stattliche fünfzehn Meter an Höhe. Gutweniger entwarf auch die künstlerische Ausstattung des Friedhofs, das bunt verglaste „Fenster der Auferstehung“ sowie das eiserne Eingangstor zum Friedhof. Vom Parkplatz aus lassen der Turm und das Auferstehungsfenster den Eindruck einer Kapelle oder Aussegnungshalle entstehen, wobei es sich aber um einen Irrtum handelt. Als Leichenkapelle wird weiterhin jene auf dem alten Friedhof genutzt, welcher über einen schmalen Pfad nach kurzem Fußmarsch zu erreichen ist. Willi Gutweniger begnügte sich jedoch nicht damit, nur die Architektur des Friedhofs zu entwerfen, sondern er entwickelte auch eine Gestaltungssatzung.
Darin wurde festgelegt, dass auf dem Friedhof keine Grabumrandungen gestattet sind, da die Auen des Herrn durch nichts gestört werden sollen. Zudem wünschte er sich, dass anstelle der herkömmlichen Grabsteine aus Marmor geschmiedete Kreuze oder Holzskulpturen aufgestellt werden. Denn nur so ließe sich die Anlage, auf der Licht und nicht Schatten herrschen solle, überblicken. Schon etliche Jahre war er nicht mehr dort, als aber Turris Babel im Jahr 2014 in der Ausgabe über Südtiroler Friedhöfe auch die seinigen behandelte, ließ es sich der rüstige, 94-jährige Gutweniger nicht nehmen, nach St. Pankraz zurückzukehren und dem Autor eine Führung zu geben. „Friedhöfe zu planen war nie mein Ziel, ich kam damals zufällig zum Auftrag in St. Pankraz, die anderen waren Folgeaufträge, mein erster gefiel den Leuten offensichtlich recht gut...“, fasste der Architekt sein Werk bescheiden, aber doch einem gewissen Stolz zusammen.viii Nur wenige Kilometer entfernt von St. Pankraz liegt die Gemeinde Latsch. Mit ihren etwa 5000 Einwohnern gehört die Ortschaft schon zu den größeren Siedlungen in Südtirol. Dennoch verfügte Latsch bis zum Jahr 2000 nur über einen relativ kleinen Kirchhof, der als maximal zehn Meter breiter Streifen um die Pfarrkirche St. Peter und Paul verläuft. An der Ostseite, hinter dem Chor der Kirche, ist es so eng, dass man kaum zwischen Gotteshaus und der geschosshohen Kirchhofsmauer durchgehen kann. Um dem gestiegenen Platzbedarf gerecht zu werden, begannen 1998 die Planungen zu einer umfassenden Friedhofserweiterung. Trotz der Lage im Ortskern gelang es hier, nördlich des bestehenden Ensembles aus Kirche und Friedhof, ein etwa 3000 Quadratmeter großes Gelände für den Neubau bereitzustellen, was mehr als eine Verdoppelung der Fläche bedeutet. Den Auftrag zum Bau des neuen Friedhofs erhielt Werner Tscholl, quasi ein Heimspiel für den in der Latscher Fraktion Morter lebenden Architekten. Tscholl, der für seine bisweilen recht exzentrischen Entwürfe bekannt ist, wollte den Friedhof jedoch nicht ausschließlich als Begräbnissort nutzbar machen. Er erkannte die Chance, durch sein Projekt das Unterdorf mit dem um etwa ein Stockwerk höher gelegenem Oberdorf zu verknüpfen. Die Grabfelder liegen, genau wie die Pfarrkirche und der alte Friedhof, auf der Höhe des Oberdorfes. Die neue Totenkapelle befindet sich am Abgang zum Unterdorf. Eine fußläufige Verbindung zwischen beiden Ortsteilen ist ein elementarer Bestandteil seines Entwurfs. Denn so sucht man den Friedhof nicht nur zu Trauer und Grabpflege auf, sondern auch mal nur nebenbei, wenn man von A nach B gelangen möchte. Vielleicht ist er so zwar noch nicht allgegenwärtig, bleibt aber im Gedächtnis der Menschen. Wenn man sich vom Unterdorf aus dem Friedhof nähert, so könnte man meinen, dass man eine moderne Verkehrsstation betritt. Ein schiffsbugartiger Baukörper aus geschliffenem Sichtbeton, flankiert von den beiden Treppenaufgängen, darüber ein geschwungenes Dach auf schlanken Stützen. Das Dach schützt jedoch nicht die auf eine Bahn wartenden Fahrgäste, sondern die Besucher der Trauerfeiern, diejenigen, die auf ihrem Weg den Friedhof queren, oder Angehörige, die bei der sommerlichen Grabpflege ein schattiges Plätzchen brauchen. Links und rechts davon liegen die neuen Grabfelder. Anders als Willi Guttweniger in St. Pankraz wählte Werner Tscholl für seinen Entwurf durchweg moderne Materialien, alle Wände und Mauern sind in Sichtbeton ausgeführt, das Schutzdach ist eine Stahl-Holz-Konstruktion. Die Fenster der Kapelle schimmern in einem milchigen Blau. Weinranken begrünen die Betonwände am Eingang vom Unterdorf aus, so passen sie sich harmonisch in die dörfliche Umgebung ein und zeigen zu jeder Jahreszeit ein anderes Bild. Grün im Frühling und Sommer, rot im Herbst, und nur im Winter kann der Beton sein Gesicht zeigen. Vielleicht weniger symbolbehaftet, aber dennoch von überzeugender architektonischer Qualität sind die vom Büro em2, Eggers, Mahlknecht und Mutschlechner realisierten Friedhofserweiterungen in Luttach und St. Sigmund. In Luttach mit seinen etwa 1000 Einwohnern war es im Jahr 2004, als das Büro nach gewonnenem Wettbewerb den Auftrag erhielt, den bestehenden Friedhof um 110 Grablegen und 39 Urnenplätze in einen Kolumbarium zu vergrößern, was auch nahezu eine Verdoppelung der Kapazität bedeutet. Kirche und alter Friedhof befinden sich hier auf einem kleinen Hügel am Ortsrand, genug Platz für die Erweiterung stand daher problemlos zur Verfügung. Jedoch gelangte man bis dato nur über eine schmale und relativ steile Treppe hinauf zur Kirche. Eine barrierefreie Erschließung und eine neue Totenkapelle waren im Zuge des Umbaus daher ebenso vorgesehen. Zudem wurde der kleine Dorfkirchhof durch Lagerräume und eine WC-Anlage zeitgemäß aufgewertet. Nach Westen hin entstanden drei etwa gleich große Terrassen mit den neuen Grabfeldern, die Kapelle, Kolumbarium und die rollstuhlgerechte Rampe liegen auf der Nordseite. Die ursprüngliche Geometrie des Friedhofs, ein unregelmäßiges Viereck, wird in dem neuen Teil fortgeführt, die Terrassen bilden leicht ineinander greifende Trapeze im Grundriss. Die neu entstandenen Grabfelder bleiben begrünt, wohingegen der ursprüngliche Friedhofsteil mit Kies bedeckt ist. Die Einfriedungsmauern sind seit jeher das Erkennungszeichen südtiroler Kirchhöfe, bei em2 Architekten werden sie daher zum zentralen Gestaltungselement. Treppen, Kapelle und die anderen Räume, das Kolumbarium und auch der Brunnen werden in die Mauer integriert. Sie wird so zu mehr als nur zu einem umgrenzenden Bauteil, die Umfriedung wird mit Leben gefüllt. Die neuen Mauern sind aus glattem Sichtbeton, um sich von dem historischen Bestand abzuheben. Das Alte wird respektvoll behandelt, das Neue hält immer zumindest einen kleinen Abstand. Die Wände sind teils verschachtelt, so wirkt der neue Friedhofsteil frischer und verspielter. Alles Neue ist horizontal gegliedert, die Mauern und Rampen, aber auch das große Fenster der Kapelle, alles scheint der Kirche mit ihrem schlanken Turm, der in den Himmel zeigt, zu Füßen zu liegen. Die Baukosten lagen übrigens bei 1,1Millionen Euro. Eine Summe, die man in Deutschland für einen vergleichbaren Dorffriedhof heutzutage nicht mehr unbedingt investieren würde.ix Die gleichen Ideen zeigen sich bei dem Umbau des St. Sigmunder Friedhofs, der in den Jahren 2009 bis 2012 erfolgte.
Der Ort ist mit gut 600 Seelen einiges kleiner als Luttach, 71Grabstellen und 22 Urnenplätze im Kolumbarium wurden hier vorgesehen. Da im Vergleich zu Luttach aber weniger Baugrund in der Umgebung vorhanden war, beabsichtigte die Gemeinde den historische, aber leerstehenden Pfarrhof – in Südtirol gerne als Widum bezeichnet – zugunsten des Friedhofs abreißen zu lassen. Das Architektenteam Eggers, Mahlknecht und Mutschlechner setzte sich hingegen von Anfang an für den Erhalt des Widums ein. Zu einem typischen südtiroler Dorf gehöre immer das Ensemble aus Kirche, Widum und Gasthaus, dazu dann noch die umliegenden Höfe. Da das Gasthaus in St. Sigmund bereits geschlossen war, so die Architekten, solle man auf keinen Fall auch noch das Widum opfern. Letztlich konnte man die Gemeinde davon überzeugen den Pfarrhof zu erhalten und zu sanieren, der Friedhof wurde stattdessen östlich hinter der Kirche erweitert. Die gestalterischen Ansätze aus Luttach hat das Büro em2 in St. Sigmund nicht nur fortgeführt, sondern noch weiterentwickelt. Die Friedhofsmauer des neuen Grabfeldes besteht aus einzelnen Wandscheiben mit verschiedenen Höhen, Verschneidungen und Vorsprüngen. Kein statisches, ernstes Gebilde, sondern eine dynamische Anordnung einzelner Elemente. Ganz im Osten der Anlage liegen die dienenden Räume und ein WC hinter dem Kolumbarium verborgen. Die Materialität beschränkt sich auf Stahlbeton für die Mauern, helles Granitpflastar für die Wege und Tore aus Cortenstahl. Farbige Akzente werden durch die verschieden getönten Glasscheiben der 22 Urnennischen des Kolumbariums gesetzt, welches so zu einem echten Blickfang wird. Auch das barocke Widum erstrahlt nun wieder im neuen Glanz, die Architekturmalerei an den Giebelseiten wurde im Zuge der Sanierung restauriert. Der Aufwand und die Überzeugungsarbeit der Architekten haben sich letztlich mehr als gelohnt, die Erweiterung des Friedhofs St. Sigmund mit der Sanierung des Widums wurde im Jahr 2014 mit dem Südtiroler Architekturpreis in Gold ausgezeichnet.x Doch auch in noch kleineren Ortschaften als St. Sigmund kann in Südtirol große Architektur entstehen. Katharinaberg zählt gerade einmal rund 250 Einwohner. Spektakulär thront die Pfarrkirche des Dorfes auf einem Bergrücken, der im Osten hunderte Meter steil abfällt. Dem Besucher bietet sich eines der atemberaubendsten Panoramen der Region und schon von weitem kündet die Kirche von dem kleinen Ort, wenn man durch die Täler hinauf fährt. Der kleine Kirchhof weist als Besonderheit einen historischen Kreuzweg auf, die Baugruppe steht seit 1981 unter Denkmalschutz. Kurze Zeit später fand eine erste Erweiterung des Friedhofs statt, im Osten wurde der ovale Kirchhof um einen weiteren Ring ergänzt. Im Jahr 2009 entstanden abermals die Planungen für eine Vergrößerung. Nun sollte der Friedhof auch mit einer Totenkapelle ausgestattet werden, deren Funktion übernahm bis dahin die Pfarrkirche. Der siegreiche Entwurf stammt von dem Architekten Arnold Gapp. Das neue Grabfeld umschließt jenes der vorigen Erweiterung wie ein weiterer Ring um die Kirche, dem Gelände folgend liegt es um gut ein Stockwerk tiefer. Die nötigen Stützmauern sind auch hier wieder in Beton errichtet, im Anklang an die Oberflächerstruktur ließ Gapp sie jedoch mit einem Spritzputz versehen. Am südwestlichen Endpunkt der Mauer befindet sich – ähnlich Gutwenigers Motiv aus St. Pankraz – ein kleiner, halboffener Turm, der den Friedhof symbolisch befestigt. Die Totenkapelle liegt auf dem ältesten Friedhofsteil, in ihrer Ausrichtung strikt der Kirche folgend. Als Gegenpol zu dem kleinen Turm bildet sie den nordöstlichen Anfang der neuen Mauer. Und da die Kapelle als ein Teil der Mauer verstanden wird, ist sie auch mit dem gleichen Putz versehen.xi Architektonisch ist das Bauwerk zurückhaltend, wenn nicht sogar spartanisch. Bei der sagenhaften Schönheit des Ortes ist auch keine aufwändige Gestaltung erforderlich. Zwei geschlossene und zwei offene Seiten, die Längswände sind hermetisch verschlossen, ein großes Zugangstor nimmt die westliche Giebelseite ein. Die Ostseite bildet ein riesiges Fenster, das den Blick über die schier unendlichen Täler frei gibt. Äußerlich scheint die Kapelle aus nur den drei Materialien Beton, Glas und Lerchenholz zu bestehen, aus welchem das Tor und die Dacheindeckung gefertigt wurden, die Abdichtung des Daches ist geschickt unter den Holzleisten angeordnet und den Blicken des Betrachters verborgen. Die Lage der neuen Totenkapelle könnte hingegen fast nicht selbstbewusster sein. Kühn erhebt sie sich über dem Abgrund, dort, wo man sie schon von weiter Ferne erblicken kann, am nordöstlichen Rand der Kirchenburg. Eine neue Landmarke, gleich einer gebauten Homage an die mittelalterlichen Burg- und Klosterkapellen der Region. Aus dem Fenster blickend könnte man meinen, über dem Tal zu schweben. Das Tor zur Kapelle ist am Ende des Kreuzwegs angeordnet, flankiert von den Stationen 14, der Grablegung Christi und 15, der Auferstehung, wie hätte man das Bauwerk symbolträchtiger erschließen können? In der Regel ist die Totenkapelle nicht verschlossen. Es lohnt sich, das Tor zu öffnen und die unvergleichliche Aussicht zu genießen. So unterschiedlich die Lösungen auch sein mögen, allen gemeinsam ist eine reizvolle Spannung, der Kontrast zwischen Alt und Neu, zwei Gegensätze, die doch zusammengehören. Die Kirchhofsmauern sind bei allen Beispielen das zentrale Element. Sie wirken jedoch nicht als Barriere, die den Begräbnisort vom restlichen Dorf abtrennt, sondern sie begründen die Existenz des Friedhofs. Ohne die Mauern wäre es in Südtirol undenkbar, Friedhöfe anzulegen.
So kommt ihnen nicht nur der Nutzen bei, sondern sie werden oft zum Erkennungszeichen. Die verschiedenen Architekten interpretieren die Kirchhofsmauern auf unterschiedliche Art und Weise neu, füllen sie mit Leben und Funktion. An den kleinen Dorfkirchhöfen Südtirols lässt sich wunderbar ablesen, wie unterschiedlich doch die Bestattungskultur in Mitteleuropa ausgeprägt ist und wie viel Wertschätzung hier dem Bergräbnisort zuteilwird. Nicht nur für Architekturliebhaber sei der Besuch eines solchen Friedhofs bei der nächsten Reise nach Südtirol dringend Empfohlen. Es lohnt sich.
i Vgl. Autonome Provinz Bozen – Südtirol, Landesintitut für Statistik, astatinfo 26/2016 S. 5-8.
ii Vgl. http://www.aeternitas.de/inhalt/presse/meldungen/2016_04_20__09_03_53 (Aufgerufen am 20.6.2016, 13:26 Uhr).
iii Vgl. Boehlke, Hans Kurt: Friedhofsbauten, 1974, Callwey Verlag München, S. 13, Z. 3-9. .
iv Vgl. http://www.aeternitas.de/inhalt/presse/meldungen/2016_04_20__09_03_53 (Aufgerufen am 20.6.2016, 13:26 Uhr).
v Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Bestattung, Abschnitt „Feuerbestattung“ (Aufgerufen am 20.6.2016, 13:32 Uhr).
vi Vgl. http://www.domradio.de/themen/vatikan/2013-07-05/vor-50-jahren-erlaubte-die-katholische-kirche-feuerbestattung
(Aufgerufen am 20.6.2016, 13:15 Uhr).
vii Vgl. turris babel, Heft 95, 05/2014, S. 18, Z. 22-24.
viii Vgl. turris babel, Heft 95, 05/2014, S. 46ff.
ix Vgl. http://www.em2.bz.it/index.php?id=37&L=0&projectId=62 (29.6.2016, 19:50 Uhr).
x Vgl. http://www.em2.bz.it/index.php?id=37&L=0&projectId=138 (29.6.2016, 20:25 Uhr).
xi Vgl. E-mail Architekturbüro Arnold Gapp vom 17.6.2016.
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