Gemeinsam sieht man besser
Die Hitze staut sich zwischen den dicht gedrängten, bis in die Haarwurzeln gespannten Fans. „Wenn die so weitermachen, wird das nichts“, grölt eine Männerstimme von hinten. Plötzlich wird es hektisch. Der Ball wird von der deutschen Mannschaft Richtung Tor gedribbelt. Die Menschenmasse verstummt schlagartig. Thomas Müller setzt zum Schuss an. Mein hibbeliger Sitznachbar Ingo erstarrt. Markus dagegen setzt siegessicher schon zum Sprung an, während Jessica mit Smartphone in der Hand von der Torchance nichts mitkriegt. Für mich ist es das erste Mal, dass ich mit fremden Menschen ein Fußballspiel anschaue. Bisher ist die Volkssportart Public Viewing nämlich spurlos an mir vorübergegangen. Obwohl ich dachte, das sei seit der WM 2006 der Renner, wollen nur 14 Prozent der von TNS Infratest befragten Personen öffentlich mitfiebern. Doch was treibt die Menschen von der gemütlichen Couch in das Gedränge?
Fußball überall
In Deutschland ist seit einigen Wochen das Fußballfieber ausgebrochen. Die Fußballweltmeisterschaft ist in vollem Gang und alles steht Kopf. Plötzlich sind sich Gewerkschafter und Arbeitgeber einig und erlauben ihren Arbeitern späteren Arbeitsbeginn bei späten Spielen. Auf einmal kann man auch nach 24 Uhr die Nachbarschaft mit hupenden Autokorsos, Jubelschreien und der ComBinho, dem Vuvuzela-Nachfolger, unterhalten. Unmöglich, der schwarz-rot-goldenen Flagge nur einen Tag zu entgehen. Und auch Public Viewing hält wieder Einzug in den Biergärten und Bars der Nation. Genau das möchte ich heute ausprobieren. Aber lassen die mich als absolut unsportlichen Nichtfußballversteher überhaupt rein?
Der erste Eindruck
Viel schwieriger als das Hineinkommen, ist die Platzsuche, weil der Gastraum schon fast voll ist. Wer gute Plätze mit perfekter Sicht auf die Leinwand haben möchte, sollte früh da sein. Weiter hinten findet sich dann doch ein Plätzchen, eingeklemmt zwischen zwei Mitschauern. Mir war gar nicht bewusst, dass ich sogar die tropischen Temperaturen Brasiliens während des Public Viewings nachempfinden kann. Was mir ebenso auffällt, sind die vielen Gespräche um mich herum, die sich oft gar nicht auf das Spiel beziehen. Natürlich gibt es die ununterbrochen redenden Hobbykommentatoren, beständig abwinkenden Nörgler oder unentdeckten, wild gestikulierenden Startrainer, die alles besser wissen. Das sind, und da muss ich dem Klischee Recht geben, fast ausschließlich Männer. Bei Frauen geht es dagegen meistens um die Frisuren und das Aussehen der Spieler und, wie könnte es anders sein, um deren Schuhe. Es sind sogar mehr Frauen anwesend, als ich erwartet hätte. Etwa 53 Prozent der von TNS Infratest befragten Frauen wollen zumindest wichtige Spiele anschauen. „Ich mach das immer direkt nach der Arbeit zusammen mit meinen Arbeitskollegen, weil mein Freund sich überhaupt nicht für Fußball interessiert. Und allein zuhause vor dem Fernseher wäre es langweilig“, verrät die 37-jährige Heidi in schwarz-rot-goldenem Fankostüm. Genau das schätzen viele am Public Viewing: Die Gemeinschaft mit Gleichgesinnten, die gute Stimmung und der Ruck, der jeden aufspringen lässt, wenn der Ball gegen das Tornetz donnert. Daneben sind auch kleine Kinder mit ebenso kleinen Deutschlandtrikots oder ältere Herrschaften da, um gemeinsam unsere Mannschaft zu bejubeln.
Urinstinkt des Menschen
In ihrer Dissertation zu diesem Thema spricht Dr. Britta Ufer der Universität Göttingen von der Suche des Individuums nach gemeinschaftlichen emotionalen Erlebnissen. Auch Soziologe Prof. Hartmut Rosa der Universität Jena vermutet dies als stärksten Grund für die zahlreiche Teilnahme an Public Viewing und weiß, dass „nur das Teilen emotionaler Empfindungen mit anderen diese noch intensiver werden lässt.“ Das kann das heimische Sofa in den eigenen vier Wänden nicht bieten. Da könnte man auch keine rüstige Rentnerin treffen, die zu den sintflutartigen Regenfällen vor dem Deutschlandspiel in Recife bloß meint: „Dann sollen sie eben Wasserball spielen.“ Oder die Kinder, die zu verstehen versuchen, warum Papa wegen einem Fußballspiel fast zu Weinen anfängt.
Umsatzplus für Gastronomen
Obwohl die Umfrage des Meinungsforschungsinstituts wenig Interesse an Public Viewing herausgefunden haben will, wird es noch in nahezu jeder Gaststätte angeboten. Lohnt sich das überhaupt? Barkeeper Manuel meint, dass die Umsätze an solchen Abenden mit vollem Biergarten nicht besser sein könnten. „Wenn wir es nicht anbieten würden, würden alle woanders hingehen und wir würden diese Gäste verlieren“, stellt er fest. Und auch Sabine findet: „Egal ob mit Arbeitskollegen oder mit Freunden: Public Viewing ist auch ein einfacher Grund, sich überhaupt zu treffen und zu feiern.“ „Außerdem ist das ein weltweiter Event. Das will doch jeder sehen“, fügt ihr Freund hinzu.
Mal was anderes
Nach meinem Versuch kann ich sagen, dass Public Viewing etwas anderes ist. Die Begeisterung der Menschen und die allumfassende Spannung machen ein Fußballspiel zu einem ganz neuen Erlebnis. Auch wenn viele nur das „Drumherum“ mögen: Fußball bringt in diesen Tagen die Menschen zusammen, ob alt oder jung, ob arm oder reich.
Müller brettert den Ball ins Tor. Der Torwart kann ihn nicht halten. Siegtor für Deutschland! Ein weiterer Schritt zum WM-Titel.
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