Internet als Informationsvermittler (Massenmedien, Politikverdrossenheit und politische Partizipation)
In Bezug auf die dargestellten, konträren Thesen lehnen manche Forscher jeden Einfluss des Internets auf den Informationsstand und das Mobilisierungspotenzial ab. Emmer, Vowe und Wolling (2011) postulieren, dass Onlinemedien zu keiner Senkung oder Steigerung politischer Partizipation der Bürger führen.
Pautz (2010), Leggewie (2009) und Krueger (2002) zeigen mit ihren Studien, dass Informationen über das Internet hauptsächlich von den Bürgern konsumiert werden, die bereits umfangreich informiert sind. Es würden keine neuen Bürgergruppen erreicht und somit könne durch das Internet auch keine höhere Partizipation realisiert werden. Krueger (2002) begründet diesen Sachverhalt mit der unterschiedlichen Ressourcenverteilung innerhalb der Gesellschaft. Nur Bürger mit mehr Ressourcen, die daher schon umfangreich durch die Nutzung anderer Medien informiert sind, könnten zur Partizipation durch das Internet motiviert werden (vgl. Krueger 2002, S. 493). Die Ungleichheiten führten zur bestehenden Trennung von bereits informierten und uninformierten Bürgern. Krueger zeichnet jedoch kein gänzlich negatives Bild. Er entwirft ein Zukunftsszenario, in welchem alle Bürger auf dieselben Ressourcen zurückgreifen können. Würde diese Entwicklung realisiert, so könnten neue Bürgergruppen an Informationen teilhaben und würden zur Partizipation motiviert (vgl. Krueger 2002, S. 494). Er schreibt dem Medium folglich ein grundsätzliches Motivationspotenzial zu. Leggewie (2009) stimmt dieser Auffassung zu und ergänzt, dass Onlinemedien sowohl quantitativ in der Breite als auch Tiefe das Angebot politischer Informationen maximieren. Zudem ermöglichten sie eine direkte Mitwirkung und individuelle Kommunikation zwischen Politik und Gesellschaft (vgl. Leggewie 2009, S. 70). Durch diese Neuerungen schaffen Onlinemedien einen theoretischen Mehrwert in Bezug auf Inklusion und Partizipation.
Auch Pautz (2010) bezweifelt nicht, dass das Internet in der Theorie zu mehr Wahlbeteiligung führen kann. Doch er argumentiert, dass keine neuen Nutzergruppen angesprochen werden. Diesen Sachverhalt erläutert er am Beispiel der Seite abgeordnetenwatch.de. Diese biete den Bürgern die Möglichkeit, sich mit Fragen direkt an Politiker zu wenden und Informationen aus erster Hand zu erhalten, ohne dass diese durch Medien gefiltert werden oder hohe Suchkosten entstehen. Abgeordnetenwatch.de gelte als Paradebeispiel für die e-democracy. Das Medium Internet wird in diesem Zusammenhang als ein Werkzeug verstanden, welches demokratische Prozesse und Praktiken verbessere. Dies geschehe durch die aktive und direkte Kommunikation zwischen Bürgern und Politikern und die dadurch ermöglichte Einflussnahme auf politische Entscheidungsprozesse (vgl. Pautz 2010, S. 159). Rund 80 Prozent der Befragten sprechen Politikern keine Problemlösungskompetenz zu (vgl. Bertelsmann Stiftung 2010). Weiterhin sei ein starker Imageverlust beim Beruf des Politikers zu beobachten (vgl. Pautz 2010, S. 157). Pautz stellt die These auf, dass Angebote wie abgeordnetenwatch.de lediglich politisch Interessierte ansprechen, die bereits gut informiert sind und Informationen über andere Medien gesammelt haben (vgl. Pautz 2010, S. 170). Er argumentiert, dass nur ein geringer direkter Austausch zwischen Politikern und Bürgern zu beobachten sei. So seien Online-Angebote in ihrer Wirkung auf politische Partizipation überbewertet – mit Ausnahme des Wahl-O-Mats (vgl. Pautz 2010, S. 169). Pautz stellt aber auch in Aussicht, dass der Austausch zwischen Bürgern und Politikern in Zukunft gestärkt werden könnte und eventuell über diesen Hebel weitere Wahlberechtigte motiviert werden könnten.
Marschall und Schultze (2012) widersprechen der These, dass keine Wirkung auf neue Personenkreise realisiert werden könne und knüpft an die positiven Zukunftsszenarien der anderen Autoren an. Es wird ein positiver Zusammenhang zwischen Internetnutzung und der Wahlbeteiligung der Bürger attestiert. In dieser Studie wird eine neue Form politischer Information untersucht, die erst durch das Internet möglich wurde: der Wahl-O-Mat vor Bundes- und Landtagswahlen. Während die Studie von Pautz (2010) dem Wahl-O-Mat ein Mobilisierungspotenzial unterstellt, überprüfen Marschall und Schultze (2012) die These auf ihren Wahrheitsgehalt.
Im Vergleich zu anderen Studien bietet diese den Vorteil, dass der deutsche Markt direkt untersucht wird und somit keine Projektionsprobleme auf das deutsche politische System bestehen. Durch die breite Grundgesamtheit der Studie und der möglichen Auswahl einer quotierten Stichprobe aus dieser Grundgesamtheit kann die Studie die Online-Nutzer der deutschen Gesellschaft repräsentativ widerspiegeln. Hierbei muss jedoch angemerkt werden, dass zwar die wahlberechtigten Bürger, die online aktiv sind, abgebildet werden, jedoch durch die Quotenregelung keine Repräsentation der gesamten Bevölkerung Deutschlands möglich ist (vgl. Marschall, Schultze 2012, S. 451). Der Beobachtungsgegenstand ist hingegen ideal, denn der Wahl-O-Mat ist als politisches Bildungsangebot eingeführt worden, welches sich die Erhöhung der Wahlbeteiligung zum Ziel gesetzt hat (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2013).
Die Studie verweist auf zwei zentrale Verknüpfungen zwischen dem Online-Angebot Wahl-O-Mat und der Wahlbeteiligung: Neben der Senkung der Suchkosten für Informationen erhöhe zudem die Unterscheidbarkeit der Parteien durch das Online-Angebot die Wahlbeteiligung (vgl. Marschall, Schultze 2012, S. 448). Das angewendete Modell verwendet binär logistische Regressionen und weist odds ratios für den Einfluss verschiedener Variablen aus. Die Güte der angewandten Modelle wird mit Hilfe des McFadden Pseudo R² bewertet, das einen Modellfit ab einem Wert von 0,2 als gut bewertet. Auffällig ist, dass ein starkes politisches Interesse einen signifikanten Einfluss auf die Absicht der Stimmabgabe hat, was die odds ratio größer 1 zeigt. Außerdem hat das Konsumieren des TV-Duells keinen signifikanten Einfluss auf die Stimmabgabe. Andere Ergebnisse ergeben sich für die Nutzung des Wahl-O-Mats. Das reine Kennen der Applikation hat keinen signifikanten Einfluss auf die Wahlbeteiligung, sondern nur das Kennen und Nutzen. Die odds-ratio von 2,196 zeigt, dass die Stimmabgabe der Nutzer rund 2,2 Mal höher als beim Nicht-Nutzer ist. Marschall und Schultze analysieren aus ihren gewonnen Datensätzen zusätzlich die Merkmale bestimmter typischer Personengruppen und wie eine Veränderung der Kontrollvariablen die Wahrscheinlichkeit der Stimmabgabe verändert. Dabei stellt sich heraus, dass Männer mit niedrigem Bildungsniveau in jüngster Altersklasse, die nicht politisch interessiert sind, ohne Wahl-O-Mat nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 9,5 Prozent wählen gehen. Nutzen diese aber die Online-Applikation, so steigt deren Wahrscheinlichkeit auf 20,3 Prozent. Hingegen gehen Personen, die den Wahl-O-Mat nicht nutzen, aber weiblich, in der ältesten Klasse sind, ein hohes Bildungsniveau haben und politisch interessiert sind, zu 97,9 Prozent wählen. Durch die Web-Applikation wird dieser Wert auf 99,1 Prozent erhöht. Der Einfluss des Online-Angebots hat hier also eine deutlich geringere Steigung zu verantworten (vgl. Marschall, Schultze 2012, S. 459). Für den Wahlberechtigten, der die typische, durchschnittliche Person im Datensatz repräsentiert, ergibt sich eine Wahrscheinlichkeit von 80,3 Prozent ohne Nutzung des Wahl-O-Mats. Mit Nutzung steigt seine Wahrscheinlichkeit auf 90,9 Prozent (vgl. Marschall, Schultze 2012, S. 459). Folglich kann der Einfluss des Online-Informationsangebots als positiv bewertet werden, wenngleich die Wirkung nicht für die gesamte Bevölkerung gleichhoch ausfällt. Die Studie erklärt einen „Medieneffekt“ (Marschall, Schultze 2012, S. 460), der sogar politikferne Wahlberechtigte zur Stimmabgabe mobilisieren kann.
Im Vergleich zu Marschall und Schultze (2012) untersucht Czernich (2012) die Wirkung des Internets in einem allgemeineren Zusammenhang. In dieser Studie wird dargelegt, dass die Wahlbeteiligung durch die Verbreitung von DSL-Anschlüssen in Deutschland bei der Bundestagswahl im Jahr 2005 gestiegen ist (vgl. Czernich 2012, S. 43).
Mithilfe einer multivariaten Regressionsanalyse wird ein Koeffizient von 0,015 für den Einfluss der Verfügbarkeit des DSL-Anschlusses auf die Wahlbeteiligung ermittelt. Wird die DSL-Verfügbarkeit in Deutschland um zehn Prozent erhöht, so steigt die Wahlbeteiligung um 0,15 Prozentpunkte. Mittels Standardabweichungen ausgedrückt steigt die Wahlbeteiligung um sieben Prozentpunkte, wenn die DSL-Verfügbarkeit um eine Standardabweichung erhöht wird (vgl. Czernich 2012, S. 43). Da im Jahr 2005 etwa 78 Prozent der Haushalte mit DSL versorgt waren, kann von einer Steigerung der Wahlbeteiligung durch die Verfügbarkeit von DSL um 1,17 Prozentpunkte ausgegangen werden. Für die Verwendung dieser Ergebnisse ist darauf hinzuweisen, dass es sich nicht um den Einfluss der Nutzung des DSL-Anschlusses handelt, sondern lediglich um die Verfügbarkeit. Untersuchungen haben ergeben, dass lediglich 20 Prozent der Haushalte zu diesem Zeitpunkt DSL verwendet haben (vgl. Czernich 2012, S. 50). Folglich sind lediglich 20 Prozent der möglichen DSL-Nutzer für den Anstieg von 1,17 Prozentpunkten verantwortlich, sodass der Effekt bei flächendeckender Nutzung viel größer sei und dem Internet laut Gattungshypothese ein vorteilhafter Einfluss zugeschrieben werden kann.
Diese Ergebnisse werden von Tolbert und McNeal (2003) gestützt und durch die Betrachtung verschiedener Partizipationsformen erweitert. Die Forscher zeigen, dass Bürger mit Internetzugang und -nutzung eine höhere politische Beteiligung bei den Formen Wahlbeteiligung, Parteimitarbeit und Versammlungen aufweisen (vgl. Tolbert, McNeal 2003, S. 181f.). Der Internet-Zugang führt laut Studie zu einer Steigerung der Wahlwahrscheinlichkeit um bis zu 12,5 Prozent im Jahr 2000. Der Konsum von Online-Nachrichten führe zu einer Steigerung von bis zu 11,7 Prozent im Jahr 1996. Im Jahr 2000 werden für diesen Effekt noch 7,7 Prozent identifiziert (vgl. Tolbert, McNeal 2003, S. 183). Setzt man diese Zahlen ins Verhältnis mit den allgemeinen Zugangs- und Nutzungszahlen des Internets, so kann wie bei Czernich davon ausgegangen werden, dass die Effekte bei einer flächendeckenden Nutzung des Internets stärker ausfallen würden. Der geringere Effekt im Jahr 1998 deutet zudem an, dass die bisherigen Ergebnissen zu Zwischen- und Regionalwahlen auch für das Internet bestätigt werden. Hinsichtlich der untersuchten nicht-verfassten Formen politischer Partizipation ergibt sich ein nicht ganz eindeutiges Bild. Während für die Jahre 2000 und 1998 signifikante Koeffizienten für den Einfluss der Variable ‚Wahrscheinlichkeit Nutzung Online-Nachrichten‘ gemessen werden, sind diese im Jahr 1996 nicht signifikant. Der Koeffizient von Tageszeitungen hingegen ist über den gesamten Untersuchungszeitraum signifikant und erreicht Werte von bis zu 0,28.