Jugend in der Literatur der Weimarer Republik

Im Jahr 1930 veröffentlicht der Schriftsteller und Journalist Axel Eggebrecht einen Zeitschriftenartikel mit dem Titel „Zehn Gebote für einen strebsamen jungen radikalen Literaten“. Darin fordert der Autor die ,radikalen’ Schriftsteller ironisch auf, die Perspektive auf die Jugend zu verschärfen und sich selbst zum Sprachrohr der jungen Generation zu machen:

„Sei jung. Immer und überall jung. Und wenn du´s nicht bist, sage, du seiest es. Schrei es heraus, plakatiere es, brülle es den Leuten in die Ohren: Ich bin verdammt und unerhört und noch nie dagewesen jung. Erfinde merkwürdige Arten, diese prätendierte Jugend zu beweisen; z.B. durch betont greisenhafte Gewohnheiten; oder indem du das schwere Geschick deiner Generation beklagst, der es leider nicht mehr gegeben sei, harmlos jung zu sein.“ (Eggebrecht 1930 / 1983, 188)

Erstellt von analui vor 9 Jahren
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Die von Eggebrecht pointiert und polemisch formulierten ,Gebote’ zeigen, welch hohe Bedeutung der Jugend und der jungen Generation in der Literatur der Weimarer Republik beigemessen wird. Zahlreiche Schriften, die am Ende der 1920er und zu Beginn der 30er Jahre in Deutschland entstehen, versuchen die zeitgenössische Jugend zu orten, ihr ein würdiges Abbild und ein historisches Denkmal zu setzen.

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Eggebrechts „Gebote für den strebsamen jungen radikalen Literaten“ sind als eine ironische Kritik des inflationären Gebrauchs von Schlagworten wie ‚Jugend’ und ‚junge Generation’ zu Beginn der dreißiger Jahre zu lesen. Der Publizist markiert, dass der abstrakte Begriff ‚Jugend’ seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine hohe Bedeutungsvielfalt angenommen hat und dass das ‚Jung-Sein’ nicht mehr nur eine Phase der körperlichen, geistigen und sozialen Funktionsreifung meint. In der Literatur und Publizistik der Weimarer Republik wird sie als argumentativ-funktionales Versatzstück verwendet.

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Die frühen Romane von Kesten, Glaeser und Noth können aus literatur­wissenschaftlicher Sicht als relativ unerforscht gelten und wurden noch nicht ausreichend in den breiten gesellschaftlichen Diskurs eingeordnet, der über die ,junge Generation’ in der Weimarer Republik geführt wurde. Der grundlegendste Aufsatz zu diesem Thema ist „Jugend ohne Väter. Zu den autobiographischen Jugendromanen der späten zwanziger Jahre“ von Karl Prümm, der sich in dem bereits erwähnten Sammelband „,Mit uns zieht die neue Zeit’. Der Mythos Jugend“ findet. Der Medienwissenschaftler expliziert darin wesentliche Merkmale der Romane in Hinsicht auf die Jugend und die junge Generation. Trotz dieses Aufsatzes und der vielen verstreuten Veröffentlichungen zur Jugend und jungen Generation fehlt bis heute eine Gesamtdarstellung, die die Romane von Kesten, Glaeser und Noth in einen umfassenden sozialhistorischen Kontext einordnet und mehr bietet, als eine grobe Skizzierung der Problemlage und einzelne Hinweise auf die narrative und literarästhetische Verarbeitung von historischen Jugendbildern.

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,Die Jugend’ gibt es (fast) nicht

Die eigene Erfahrung und der eigene Lebenslauf sind oftmals ganz anders organisiert, als dies wissenschaftliche, politische und alltägliche Diskurse über ,die Jugend’ nahelegen. Menschliche Lebensläufe können weder aus rein biologischen Reifungsprozessen noch ausschließlich aus gesellschaftlich definierten Zeitplänen erklärt werden. Weder biologisch-psychologische noch rechtlich-politische oder wirtschaftlich-soziale Kriterien können einen dauerhaften und für unterschiedliche Epochen und Kulturen gültigen Begriff der Jugend bestimmen. Wie der deutsche Sozialisationsforscher Walter Hornstein (1966) im Vorwort zu seiner Geschichte der Jugend bemerkt, ist Jugend „in einem radikalen Sinn das, was eine bestimmte Gesellschaft zum Jugendstatus deklariert, und jede Gesellschaft ordnet und definiert Jugend nach den Bedürfnissen und Möglichkeiten, die innerhalb ihres kulturellen Zusammenhangs maßgebend sind.“ (Hornstein 1966, 30)

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Einen Einblick in sein Verständnis des Jugendalters hat Bernfeld 1923 in seinem Aufsatz „Über die typische Form der männlichen Pubertät“ gegeben. Bernfeld bestimmt darin die Pubertät im Sinne Freuds als die Veränderung vom infantilen zum erwachsenen Sexualleben. Die Sexualerregung gerate zu Beginn der Jugend unter das Primat der Genitalzonen und es komme zu einer zweiten Objektfindung, die sich wegen der aufgerichteten Inzestschranke auf Personen außerhalb der Familie richten müsse. Damit sei bereits der Anfangs- und Endpunkt des funktionalen Prozesses gegeben (vgl. Bernfeld 1923 / 1970, 752).

Der Zeitraum zur Ausbildung des Sexualvermögens als Resultat des physiologischen Prozesses, sei verhältnismäßig konstant (vgl. ebd., 754). Der zweite Teil der Pubertät hingegen, die Anpassung des Sexualbedürfnisses an die neue Situation, sei in seiner Dauer variabel. Die Differenz, die sich aus der Anpassung des Psychischen aus dem Physischen ergibt, und sich im „sozialen Phänomen der kulturellen Jugend“ offenbare, nennt Bernfeld „gestreckte Pubertät“ (ebd., 755 ff.).

In der Absicht eine erste Orientierung für die Formenvielfalt der ‚gestreckten Pubertät’ zu geben, verweist der Psychoanalytiker auf Bereiche im Kulturleben, in denen die ‚gestreckte Pubertät’ in Erscheinung tritt und revolutionär, d.h. kulturerneuernd wirkt. Während der ‚gestreckten Pubertät’ nähme ein Individuum am nachhaltigsten ein gewisses Interesse am Kulturleben, indem es ihm „eine beträchtliche Rolle in seinem psychischen Ganzen zukommen lässt“ (ebd., 756). Dieses Interesse sei idealistisch und diene weder unabgelenkter Libido noch der Befriedigung der Ich-Triebe in direkter Form. Um die Herkunft des Phänomens der ‚gestreckten Pubertät’ psychoanalytisch zu klären, gibt Bernfeld zunächst weitere typische Charakteristika an, die, so betont er immer wieder, keinesfalls auf alle Individuen zutreffen würden.

Typische Charakteristika der ‚gestreckten Pubertät’ seien außerordentliche Produktivität und der Drang etwas für eine Idee zu tun. Der Pubertierende verfüge häufig über ein geringes Selbstbewusstsein, bei gleichzeitiger Überschätzung der eigenen Person und ihrer Werke. Aus der ambivalenten Selbstliebe entsprängen Herabsetzungstendenzen insbesondere gegen die Generation der Gleichaltrigen und gegen Autoritäten, wobei ein Freund und Meister, dem die ganze Liebe und Verehrung gilt, aus den Abwertungen ausgenommen würde (vgl. ebd., 759). Der Pubertierende, so seine Schlussfolgerung, ist ein Narzisst. Zur Klärung der Eigenschaften der ‚gestreckten Pubertät’ beruft Bernfeld sich auf Freuds Theorie des Narzissmus.

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Zum Zeitpunkt der ersten Veröffentlichungen waren alle drei Autoren selbst noch relativ jung: Hermann Kesten war 27 Jahre, Ernst Glaeser 26 Jahre und Ernst Erich Noth 22 Jahre alt. Die Handlungszeit ihrer Romane erstreckt sich von der Kaiserzeit bis in die unmittelbare Gegenwart der späten Weimarer Republik. Die jungen Protagonisten ihrer Romane sind zwischen 12 und 20 Jahren. Zwischen dem eigenen Erleben und der romanhaften Systematisierung liegt somit wenig zeitliche Distanz. Im folgenden Kapitel wird nach der Verbindung von erlebten und erzählten Zeitpunkten, d.h. nach der autobiografischen Dimension der Romane, gefragt. Die Erörterung des Verhältnisses von authentischer und fiktionaler Rede und die Rekonstruktion der historischen Handlungsrollen, die sich die Autoren selbst zuschreiben, stecken den Rahmen für die weitere Analyse und Interpretation der Romane ab. Die Impulse und Anlässe für das Verfassen eines autobiografisch motivierten Romans, so kann aus Vorworten, autobiografischen Notizen und weiteren textexternen Quellen geschlossen werden, sind bei Kesten, Glaeser und Noth sehr verschieden.

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