Kritik an die Generative Grammatik
W-Bewegung (engl. ‚wh-movement′) bezeichnet in der Generativen Grammatik (= GG) das syntaktische Verfahren, durch welches W-Fragen gebildet werden.
W-Fragen sind traditionell als Ergänzungsfragen bekannt, d.h. Fragen, die durch W-Wörter (Interrogativpronomina und -adverbien) eingeleitet werden. Diese satzinitiale Stellung des ‚W-Knotens′ (engl. ‚wh-node′) wird als Ergebnis einer Bewegung nach vorn verstanden, die man ‚Topikalisierung′ nennt.
Topikalisierung ist im Grunde genommen ein Sonderfall der Permutation, die neben der Substitution eine der seit jeher bewährten heuristischen Tests zur Ermittlung von Satzgliedern darstellt. Im Rahmen der Konstituentenanalyse (engl. ‚immediate constituent analysis′ = IC-Analyse) des amerikanischen Strukturalismus wurden diese Entdeckungsprozeduren (engl. ‚discovery procedures′) zur Segmentierung von Syntagmen - v.a. von Sätzen - in eine hierarchisch definierte Abfolge von Konstituenten systematisiert. Im deutschsprachigen Raum machte Hans Glinz (1952, 1957) diese operationalen Verfahren für die neuere Satzgliedlehre nutzbar.
Auch innerhalb der GG stellt die Konstituentenanalyse eine grundlegende Instanz zur syntaktischen Organisation da und in einigen generativistischen Einführungswerken werden der Begriff der Konstituente und die Konstituententests nicht selten anhand einer moderneren Formulierung derart präsentiert, dass ein argloser Leser meinen könnte, es handle sich dabei um Erkenntnisse, die erst der GG zu verdanken seien (so z.B. FANSELOW/FELIX 1993: 30f.). Dabei verwarf noch die Rektions- und Bindungs-Theorie (=GB-Theorie; engl. ‚Government and Binding Theory′) der frühen 1980er Jahre die durch die Permutationsprobe und die IC-Analyse bestätigte Intuition, dass die bewegten W-Elemente - wie andere NPs bzw. PPs auch - Satzglieder bzw. phrasale Konstituenten darstellen. Stattdessen stellt man die Hypothese auf, W-Elemente würden in die satzeinleitende ‚COMP-Position′ bewegt, in eine Position also, die sonst den Satzkonjunktionen - die bekanntermaßen nicht phrasal sind - vorbehalten ist (CHOMSKY 1980: 172ff.), eine Hypothese, die später mit Recht verworfen wurde.
Damit ist eine Eigentümlichkeit der generativen Theorien exemplarisch erwähnt, die m. E. ein besonders kritisches Augenmerk verdient, nämlich die zwiespältige Beziehung zu anderen grammatischen Theorien und Ansätzen: Einerseits werden bedeutende Erkenntnisse der Satzgliedlehre, des Strukturalismus oder der Valenztheorie u.a. bei der Aufstellung von Annahmen z.T. ignoriert. Andererseits werden nicht selten dieselben Erkenntnisse anderswo wiederaufgenommen und weitergegeben bzw. weiterentwickelt ohne Hinweise darauf, woher besagte Erkenntnisse eigentlich herkommen.
Ein zweiter, viel ernsthafterer Kritikpunkt ist m. E. der ausgeprägte strukturalistische Ansatz der GG.
CHOMSKY und die Chomskysten entwickelten in den letzten 40 Jahren eine grammatische Theorie, die sich insofern grundlegend anders als die des amerikanischen Strukturalismus verstand, als sie neben den Kriterien von Beobachtungs- und Beschreibungsadäquatheit auch dem von Erklärungsadäquatheit entsprechen wollte. Unter den beobachtungs- und beschreibungsadäquaten Grammatiken sollte diejenige als erklärungsadäquateste angesehen werden, die einer Sprachtheorie entspricht, welche linguistische Universalien und eine Theorie des Erstspracherwerbs in Zusammenhang bringt.
Das Chomskysche Konzept von Spracherwerb ist tatsächlich grundlegend anders als das der amerikanischen Strukturalisten: Dem Behaviourismus BLOOMFIELDs wurde ein Mentalismus entgegengestellt, das Lockesche Konzept von ‚tabula rasa′ durch das Cartesianisch anmutende Konzept der ‚angeborenen Universalgrammatik′ ersetzt.
Davon ausgehend stellte man die Theorie der universalsprachlichen Prinzipien auf, die durch einzelsprachliche Regelbeschränkungen parametrisiert werden. Damit verbunden ist außerdem die Annahme, die in natürlichen Sprachen tatsächlich vorkommenden syntaktischen Strukturen (Oberflächenstrukturen) würden aus durch Phrasenstrukturregeln erzeugten Grundstrukturen (Tiefenstrukturen) mittels Transformationsregeln (v.a. Bewegungstransformationen, z.B. W-Bewegung im Fall der W-Fragen) sukzessive abgeleitet - daher auch die Bezeichnung ‚Generative Transformationsgrammatik′ (engl. ‚generative transformation grammar′).
Für die Repräsentation besagter Transformationen wurde ein Formalismus entwickelt, bestehend aus Regeln, Beschränkungen und Repräsentationsstrategien mittels Strukturbäume, Koindizierungen u.a., der ein durchaus interessantes Instrumentarium zur Beschreibung von syntaktischen Strukturen darstellt. Aber nicht immer genügen die aufgestellten, oft rein spekulativen Hypothesen der selbstgestellten Forderung nach Erklärungsadäquatheit im kognitiv-psychologischen Sinne. Und selbst wo das der Fall ist, drängt sich die Frage auf, ob die Frage des Erstspracherwerbs das ausreichende Kriterium sein kann, eine Grammatik als erklärungsadäquat zu beurteilen.
In Anlehnung an funktionalgrammatische (=FG) Ansätze in synchroner wie diachroner Hinsicht (DIK 1997; GIVÓN 1984, 1990 und 1995; KELLER 1994) kann eine grammatische Theorie m. E. erst als erklärungsadäquat bezeichnet werden, wenn sie von der primären Funktion von Sprache und sprachlichen Strukturen, der kommunikativen Funktion, ausgeht. Dabei verstehe ich ‚kommunikative Funktion′ als "Beeinflussung der Mitmenschen" (KELLER 1994:119), als den Wunsch oder die Notwendigkeit, bestimmte Verstehensprozesse und Verhaltensweisen beim Kommunikationspartner zu erzielen. Erklärungsadäquat ist demnach eine grammatische Theorie, die die Ikonizität von morphosyntaktischen Strukturen berücksichtigt, indem die syntaktische Kodierung nicht per se beschrieben, sondern als Abbildung von bestimmten diskurspragmatischen Zwecken und/oder Bedürfnissen erklärt wird (vgl. z.B. GIVÓN 1984:29ff. und DIK 1997-1:12ff.).
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