Kulturtkritik

Langsam lohnt es sich wieder den Seniorensender laufen zu lassen.
Die „gute“ Musik ist längst zur Legende vergangener Zeit geworden und das Produkt „Musik“ ist, dank ein paar besitzorientierter Geniestreiche, von einem Initiator für Veränderung und Reflektion zur Stagnation selbst geworden. Die modernen Entwicklungen in der öffentlichen Kunst sind ganz sicher in Richtung ewiger Wiederholung und Befriedigung des Initialreizes einzuordnen. Monotonie hält das Uhrwerk der Elektronischen Musik am drehen

Erstellt von Flowmotion vor 9 Jahren
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Doch sind bei genauerem Betrachten, und vorallem Erleben, die Energiewellen zu spüren, welche auch schon vor Jahren für Aufruhr und ekstatische Seinszustände gesorgt haben. Hoffnung und Empörung ist aus der Entwicklung der „Hauptstrom“-Musik zu lesen. Zwischen völligem Loslassen und grenzenlosem Konsum hin und her gerissen, kompensiert die Jugend die blinde Wut des Wachstumszwangs. Völlig überschwemmt von Informationen und in einem allgegenwärtigen, virtuellen Netz aus sozialen Bindungen und toten Arbeitsprozessen, ist es schwer mit vernünftigen Überzeugungen von Echtheit oder natürlichem Dasein Fuß zu fassen.

Amüsanter Weise trifft Erich Fromm in seiner, 1979 erschienenen Ausführung über die seelische Grundlagen einer neuen Gesellschaft, „Haben oder Sein“, den Kern der Entwicklung.
„Wissen beginnt […] mit der Zerstörung der Täuschungen, mit der „Ent-täuschung“. Wissen bedeutet durch die Oberfläche zu den Wurzeln und damit zu den Ursachen vordringen, die Realität in ihrer Nacktheit „sehen“. Wissen bedeutet nicht, im Besitz von Wahrheit zu sein, sondern durch die Oberfläche zu dringen und kritisch und tätig nach immer größerer Annäherung an die Wahrheit zu streben.“(S.48, 17ff)

Wie die Musik, ist auch das Wissen nur noch ein Produkt, welches der Gläubige erwerben kann. An den Universitäten wird in Akkordarbeit Fachwissen in die Studentengehirne gepresst. Das exponentiell schneller werdende Uhrwerk braucht Öl für seine Zahnräder. Schon (oder sogar) im alten Rom gab es Sklaven für die niederen Arbeiten, um den freien Männern die Möglichkeit zu geben, sich ganz dem Dasein und der Annäherung an „die Wahrheit“ zu widmen. Doch das Wissen um die eigene Sklaverei ist, ob bewusst oder unbewusst, eine mächtige Energiequellen für diejenigen die der Abstumpfung ausgesetzt sind und ihr dennoch trotzen. Der „Back to the roots“-Gedanke, welcher auch von Fromm so schön umschrieben wird, hat eine lange Geschichte und viele Sklaven haben schon im „Soul“ und „Blues“ die nötige Wiederbelebung gefunden. Das Einfache, Direkte und vorallem Echte von Muddy Waters und Co. lassen auch heute noch viele Herzen höher schlagen.
Die Musik heute spiegelt besonders nachts perfekt wieder, was Fromm so tief erkannt hat. So ist die neuere Entwicklung schon so radikal, dass der Zuhörer sich völlig der Maschine unterordnet. Es wird eine völlige Trance durch den Mix von Monotonie und sphärischen Extras erzeugt, so dass jedes Individum selbst die Möglichkeit bleibt „durch die Oberfläche zu den Wurzeln [...] vorzudringen“. Jedem selbst ist es hier überlassen in der Form des Habens weiter durch Monotonie abgestumpft zu werden, oder aber in Ekstase zu den eigenen Energiequellen vorzudringen und echter zu werden. Wobei hier viel Wildheit freigesetzt wird und für Außenstehende auch abschreckende Bilder entstehen können.
Doch zeichnet eben genau diese Art der Kunst den Schrei nach Sein, nach Nacktheit, nach Leben. Die direkte Reaktion der Jugend auf die totale Hingabe des Besitzenden, immer gierig mehr zu wollen und diesen, für den Normalverbraucher nur schwer zu durchbrechenden, Zustand des Haben-Wollens. Das Reichtumanhäufen, um mehr Reichtum zu haben, wo doch wirklicher Reichtum wäre, die Freude über Freiheit und Sorglosigkeit zu teilen, jedenfalls generell Freude zu teilen, was ja auch der Grundgedanke von Musik ist: Gefühle erzeugen, die ganze Massen ergreifen und sie zu einem glücklichen Bewusstsein zusammenschmelzen.
Das war und ist Aufgabe der Künstler: das Gefühl des Zeitgeist erfassen (um diesen weiter zu entwickeln?). Das Gefühl, welches meist von heutiger „Trend“-Musik entworfen wird, pendelt zwischen dumpfer Befriedigung des Initialreizes(wie erschafft man einen Ohrwurm in 30 Sekunden) und totaler Rastlosigkeit.
Ein Hilfeschrei, der oft von Verzweiflung oder Rettung in eine Extrawelt des Seins erzählt. Doch wie in der Wirklichkeit geht auch hier die Schere zwischen arm und reich mit jedem Quartal ein Stückchen weiter auf. Auf der einen Seite die längst ergebenen, abgestorbenen Konsumenten, wartend auf einen Retter der sie in die Freiheit des Seins entlässt und auf der anderen Seite engagierte nach neuen Momenten strebende Künstler, Kreative und Denker, die die Hoffnung auf einen immerhin momentanen Umschwung wieder und wieder herausfordern.
So ist der „Retrotrend“ und die Entwicklung der Elektronischen Musik in einer Erkenntnis zu verbinden: Die Forderung nach Veränderung.
Wie viele dem Ruf der Veränderung folgen und aktiv in ihrer Welt für mehr Echtheit, mehr Bewusstsein und mehr Leben kämpfen, ist noch nicht auszumachen.
Im Evolutionstechnischen Sinne wäre es jedenfalls von höchstem Vorteil, das Wissen um die heilende Kraft von Musik nicht als Produkt verloren gehen zu lassen.
Und wer weiß? Vielleicht sind die Zeiten bald reif dafür, dass rollende Steine wieder eine Lawine auslösen können und das Graue mit neuen Farben gefüllt wird. Es bleibt abzuwarten, zu hoffen und Radio zu hören... den Seniorensender

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