Leben mit den Toten ­– neue Herausforderungen für die Friedhofskultur

Leben mit den Toten ­– neue Herausforderungen für die Friedhofskultur

Der Gedanke an Tod und Vergänglichkeit verursacht Unbehagen ­– deshalb meiden viele Menschen den Friedhof. Andere dagegen schätzen die grünen Oasen der Stadt und genießen es, den hektischen, reizüberfluteten Alltag hinter sich zu lassen. Besonders die historischen Friedhöfe der Großstädte sind beliebt: Hier verweilt man gerne – fasziniert von der morbiden Schönheit alter Grabsteine und von den Geschichten, welche uns Inschriften, Symbole, Bildhauerkunst oder auch Fotos der Verstorbenen erzählen.

Erstellt von zazie vor 8 Jahren
Teilen

Zahlreiche Publikationen zeugen von einem enorm gestiegenen Interesse an der Bestattungs- und Erinnerungskultur vergangener Epochen. Friedhöfe haben sich zu einem spannenden interdisziplinären Forschungsfeld entwickelt, denn die Erforschung der Abschiedsrituale, Gedenkformen und Bestattungspraktiken der letzten Jahrhunderte eröffnet neue Perspektiven – nicht nur für die theologische und historische Forschung, sondern insbesondere auch für die Sozialwissenschaften. Der Blick zurück auf den Umgang unserer Vorfahren mit dem Tod und seinen Begleitumständen trägt dazu bei, die Trends in der Friedhofs- und Bestattungskultur der Gegenwart besser zu verstehen und einzuordnen.

Verblichene Pracht ­– die prunkvollen Friedhöfe des 18. und 19. Jahrhunderts

Dass sich nicht nur der Umgang mit Tod und Trauer, sondern auch das gesamte Lebensgefühl einer Epoche in der Friedhofsgestaltung manifestieren kann, erklärt Prof. Dr. Reiner Sörries, Direktor des Museums für Sepulkralkultur in Kassel, am Beispiel des bürgerlichen Zeitalters. Er sieht einen Zusammenhang zwischen den prachtvollen alten Grabstätten, die im 18. und 19. Jahrhundert bei allen, die es sich leisten konnten, en vogue waren, und einem durch die Aufklärung eingeleiteten Verlust an Religiosität. Diesen Säkularisierungsprozess bezeichnet Sörries als „die eigentliche Geburtsstunde der Friedhofskultur“. Das klingt zwar zunächst paradox, wird aber dann verständlich, wenn man den Gräberpomp als materiellen Ersatz für den Jenseitsglauben versteht, der bereits bei den Menschen des ausgehenden 18. Jahrhunderts an Überzeugungskraft verloren hatte und der nach und nach immer brüchiger wurde.

Ziel des Gräberkultes war es also, den geschwächten Gottesglauben mit einem Übermaß an Prunk zu überdecken. Ferner hatten die herausgeputzten Gräber die Aufgabe, gesellschaftlichen Rang und Reichtum der angesehenen Familien zu repräsentieren. Imposante Mausoleen mit meterhohen Statuen zeugen noch heute von dem enormen Wunsch nach sozialer Distinktion.

Neue Schlichtheit ­– der Einzug demokratischer Ideen

Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wich der Gräberkult allmählich demokratischeren Vorstellungen. Vorreiter waren die sogenannten Friedhofsreformer, die die Idee von der Gleichheit aller Menschen im Tode proklamierten. Logischerweise war ihnen der Wildwuchs der Eitelkeiten auf den alten bürgerlichen Friedhöfen ein Dorn im Auge. Sie träumten stattdessen von gleichartigen Grabreihen, die einem einheitlichen ästhetischen Konzept folgen sollten. Es entstanden die ersten Friedhofssatzungen. Bald darauf jedoch sollten die Friedhöfe für die gefallenen Soldaten des Ersten Weltkriegs mit ihren endlos gleichen Gräberreihen ­– alle im gleichen Abstand und rechten Winkel angeordnet ­– die Vision der Friedhofsreformer auf bittere Weise übertreffen. Der beklemmende Mangel an Individualität in der Grabgestaltung entspricht der Geringschätzung, mit der die Soldaten in den sicheren Tod geschickt worden waren. Auch von den Nationalsozialisten wurde der ursprünglich humanistisch geprägte Gleichheitsgedanke der Friedhofsreformer propagandistisch missbraucht, da er sich scheinbar perfekt in die Ideologie der Volksgemeinschaft integrieren ließ.

Erst in den 1960er Jahren keimten wieder Bestrebungen nach mehr Individualität in der Grabgestaltung auf. Die präzisen Vorgaben der Friedhofssatzungen begannen mit neuen Ideen von künstlerischer Freiheit zu kollidieren und wurden nach und nach wieder variabler gestaltet.

Grabkultur heute – Werteverfall oder Neuorientierung?

Beim Gang über den Friedhof von heute begegnet man vielerorts Überraschungen, die durchaus gewöhnungsbedürftig sind: Statt auf Kreuze und klassische Sinnsprüche wie „Ruhe in Frieden“ trifft man auf Fußbälle, Rockgitarren oder Motorräder. Hello Kitty und Super Mario erzählen von der Lebenswelt der Verstorbenen, QR-Codes auf den Grabsteinen laden dazu ein, sich im Internet detaillierter über die Toten zu informieren. Auch gibt es den Trend zu Gemeinschaftsgräbern, die nicht mehr auf Familienzugehörigkeit beruhen, sondern auf der Ähnlichkeit von Lebensentwürfen. So haben sich Schalke- und HSV-Fans gleich einen eigenen Friedhof eingerichtet. Die Gräber dort sind einem Fußballstadion nachempfunden und der Blumenschmuck entspricht den jeweiligen Vereinsfarben. In Berlin gibt es seit kurzem einen Friedhof für homosexuelle Frauen.

Während einige Zeitgenossen diese Entwicklung als Zeichen des Verfalls deuten, stehen andere dem Wandel der Bestattungskultur durchaus aufgeschlossen gegenüber. Fachleute sind von den immer bunteren Gräbern, die auf Hobbies, bestimmte Vorlieben oder andere individuelle Eigenschaften der Verstorbenen verweisen und gleichzeitig auf christliche Trauersymbole verzichten, jedenfalls nicht überrascht. Denn der auf modernen Friedhöfen immer sichtbarer werdende Trend zur Individualisierung, der sich schon seit Jahren auch in anderen Gesellschaftsbereichen abzeichnet, wurde bereits 1986 von dem Soziologen Ulrich Beck in seinem berühmten Buch „Risikogesellschaft“ diagnostiziert.

Im Kern dieser Gesellschaftsanalyse steht der Verlust traditioneller Lebensformen und Überzeugungen. Demnach sind alte Zuordnungen wie die Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht ebenso obsolet geworden wie überkommene Geschlechterrollen oder etwa die Vorstellung, den einmal erlernten Beruf lebenslang auszuüben. Durch diese Entwicklung verliert die Welt für den Einzelnen an Eindeutigkeit und Klarheit. Er erlebt seine existentiellen Entscheidungen nicht mehr als vorherbestimmt, sondern glaubt vielmehr, für seine eigene Biografie selbst verantwortlich zu sein. Selbstverwirklichung heißt daher das Zauberwort, das auch vor Friedhöfen nicht haltmacht und sich in der individuellen Grabgestaltung niederschlägt.

Nicht mehr wegzudenken – die Urnenbestattung

Im Jahre 1963 hob die katholische Kirche ihr jahrhundertelanges Verbot von Feuerbestattungen auf ­– unter der Voraussetzung, dass die Einäscherung „den Glauben an die Auferstehung des Fleisches nicht in Frage stellen dürfe.“ Heute ­– ein halbes Jahrhundert später ­– steht fest: Die traditionelle Erdbestattung ist dabei, zum Auslaufmodell zu werden. Dagegen wird die Urnenbestattung immer beliebter ­– insbesondere ihre oberirdische Variante, d. h. die Beisetzung in Urnenanlagen bzw. Kolumbarien.

Dr. Hanns Menzel, Geschäftsführer des Friedhofsausstatters PAUL WOLFF, einem der führenden deutschen Hersteller für oberirdische Urnensysteme, begründet deren Erfolg damit, dass sie eine zeitgemäße Antwort auf wesentliche gesellschaftliche Veränderungen ­geben. Vor allem in der Alters- und Familienstruktur und im Mobilitätsverhalten habe sich ein grundlegender Wandel vollzogen. Menzel: „Die Menschen leben länger, familiäre Bindungen lockern sich, die Zahl der Single- und Zweipersonenhaushalte nimmt zu. Schon aus beruflichen Gründen ziehen die Leute immer häufiger um. Für entfernt lebende Angehörige wird es deshalb immer schwieriger, die Gräber verstorbener Familienmitglieder zu besuchen geschweige denn zu pflegen. Deshalb ist Pflegefreiheit für viele ein wichtiges Argument.“

Gleichzeitig ist aber gerade in Zeiten tiefgreifender Veränderungen eine verstärkte Rückbesinnung auf traditionelle Werte zu beobachten. So geht etwa die gänzlich anonyme Bestattung auf einer Rasenfläche vielen Menschen zu weit. „Der Wunsch nach einem konkreten Bezugspunkt der Erinnerung“, erläutert Menzel, „d. h. nach einem identifizierbaren Grab mit Nennung des Namens und der Lebensspanne des Verstorbenen, ist für die meisten Hinterbliebenen nach wie vor wichtig. Für viele gehört es auch einfach dazu, ein Grab liebevoll zu schmücken, weil das eine ganz archaische Form aktiver Trauerbewältigung darstellt.“ Die oberirdische Urnenbestattung beschreitet demnach einen Mittelweg, indem sie einerseits den lebenspraktischen, ökonomischen Wunsch nach einer pflegefreien bzw. -armen Grabstätte erfüllt, gleichzeitig aber auch dem tief empfundenen Bedürfnis vieler Hinterbliebener entgegenkommt, einen festen Ort für ihre Trauer zu haben, den sie auch – innerhalb gewisser Grenzen ­– individuell gestalten können.

Ende des Schattendaseins – Hoffnung für den Friedhof des 21. Jahrhunderts

Es scheint absehbar, dass sich die Zeit der reißbrettartigen Friedhofsanlagen dem Ende zuneigt. Schon heute sind Friedhöfe in verschiedene Bereiche aufgeteilt: Neben den klassischen Reihen- und Familiengräbern gehören Areale mit Urnenwänden bzw. Urnenstelen inzwischen zum Standard. Immer häufiger sind auch Aschestreuplätze oder Baumgruppen für Naturbestattungen vertreten. Fast noch wichtiger als das wachsende Angebot an verschiedenen Bestattungsmöglichkeiten ist jedoch, dass die Friedhöfe des 21. Jahrhunderts auch eine Pluralisierung ihrer gesellschaftlichen Funktionen erfahren werden.

In Zukunft werden sie nicht mehr nur Orte der Trauer und des Gedenkens sein, sondern auch der Freizeit und Erholung dienen. Ebenso wird man sie für kulturelle Veranstaltungen nutzen. In Großstädten ist dies heute schon der Fall: In Trauerhallen finden Vernissagen, Konzerte und Lesungen statt. Darüber hinaus werden Patenschaften für denkmalwürdige Grabmale übernommen, damit historische Friedhofsbereiche erhalten bleiben. Zu erwarten ist ­­–­ so die Prognose des Kulturanthropologen Prof. Dr. Norbert Fischer –, dass auch Natur und Landschaft wieder eine größere Rolle bei der Friedhofsgestaltung spielen werden. Wenn Großstädte Friedhofe als Naturschutzgebiete ausweisen, die mit ihrer Artenvielfalt Besucher anlocken, ist dies bereits ein erster Schritt in diese Richtung. Der Blick in die Zukunft des Friedhofs von morgen lässt also durchaus Hoffnung aufkommen: Je offener sich die Friedhöfe gegenüber den Lebenden präsentieren, desto mehr werden sie wieder einen zentralen Platz inmitten der Gesellschaft einnehmen.

Gefällt dir was du siehst? Teile es!

Kommentare

Registeren oder anmelden um zu kommentieren.