Lernen und Freude – Die Motoren des Lebens
Lernen und Freude – Die Motoren des Lebens
Inhaltsverzeichnis
„Non scholae sed vitae discimus“ (Seneca, o.J., S. 11f.). Sprüche wie dieser waren der Stoff, aus dem die Treppenwitze unserer Lateinstunden geschmiedet waren. Nicht nur einmal stöhnten wir auf, ob der Fülle trockenster Grammatiktheorie. Auf unsere regelmäßige Frage nach der Sinnhaftigkeit dieses Fachs erwiderte der Lehrkörper über die Jahre des Unterrichts hinweg stets mit diesem Spruch Senecas. Kein Trost, wie wir jungen Menschen befanden. „Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir“ (s.o.). Der Ausspruch dieser Geistesgröße aus der Antike ist auf erschreckende Weise heute so aktuell wie nie. Immer häufiger und in immer kürzeren Zyklen brechen tradierte Gesellschaftsabläufe und -komponenten weg. Gesellschaftsprozesse, auf die Generationen vor uns bauen und vertrauen konnten, schufen die Identität (vgl. Spannring 2007, S. 1ff.).
Als Folge dieser Entwicklung sind viele Freiräume entstanden, in denen manche nur schwer Lebensorientierung finden. Abgebrochene Schul- oder Lehrausbildungen, Studiumabgänge, gestiegene Arbeitslosigkeit und unrunde Lebensbiographien häufen sich. Wer das Heft jetzt nicht selbst in die Hand nimmt, bleibt übrig und den Letzten beißen bekanntlich die Hunde. Zumindest intuitiv haben wir dies längst begriffen und den Wahrheitsgehalt von Senecas Ausspruch somit bestätigt. Fazit: Für seine Lebensbiographie zeichnet sich jeder ausnahmslos selbst verantwortlich (vgl. Spannring 2007, S. 1f.).
Allerdings lernen wir im (Berufs-)Alltag meist nur das Allernötigste und nicht wenige von uns werden der Meinung sein, unser Bildungssystem habe ihn oder sie traumatisiert zurückgelassen und so jegliche Bereitschaft, konzeptionell nachhaltig zu lernen, bereits im Keim erstickt. Das mag zutreffen, doch schafft diese Tatsache keine konstruktive Lösung unseres Problems mangelnder Lernbereitschaft, die Voraussetzung für ein gelungenes Leben ist. Um die Hausforderung, ein Leben lang motiviert und nachhaltig zu lernen, anzunehmen, bedarf es eines besonderen Brennstoffs der Freude. Es mutet uns allerdings seltsam an, Lernen und Freude in einem Atemzug zu nennen und in homogener Beziehung zueinander zu setzen (vgl. Mourlane 2013, S. 98ff.).
2. These
Seit Jahren diskutiert die Gesellschaft die Mängel unseres Bildungssystems. Es ist eine mühsame Diskussion zwischen Bildungsidealen, Notwendigkeiten des Arbeitsmarkts und politischer Umsetzung. Eines ist jedoch evident: es besteht eine Kluft zwischen dem Ausbildungsergebnis unserer Bildungsstätten und der gesellschaftlichen Realität. Im Spannungsfeld dieser beiden Pole werden Lebensbiographien zerrieben. Während selbst ist der Mann respektive die Frau früher ein eher allgemein gehaltener Ratschlag zum Aufzeigen des Wertes eigener Initiative war, so ist er heute bittere Realität.
Daher soll an dieser Stelle folgende Annahme getroffen und im Folgenden besprochen werden:
„Das Gelingen unserer Lebensbiographie liegt allein in unseren Händen. Lebenslanges Lernen ist kein Karriere-Tipp, sondern Voraussetzung und Fundament eines gelungenen, erfolgreichen Lebens. Um dies verwirklichen zu können, ist fortwährende Motivation notwendig, die authentischer Freude entspringt. Die Freude aber ist Gegenpol der Frustration, Letztere liegt uns unseren Lebensumständen geschuldet jedoch häufig näher. Hier das Ruder umzureißen, erfordert von uns einen hohen Grad an Selbstbestimmtheit und Selbstwirksamkeitsüberzeugung. So ist ersichtlich, dass sich hinter dem Aufruf, mit Freude zu lernen, tatsächlich die Aufforderung verbirgt, ein erfülltes Leben proaktiv und alternativlos anzustreben und zu verwirklichen.“ (Mourlane 2013, S. 44ff.)
3. Definitionen
Anhand der Definition von Lernen und Freude sollen die dieser Arbeit zugrundeliegenden Begrifflichkeiten fundiert erklärt werden.
3.1 Das Lernen
Zum Lernen existieren mannigfache Definitionen, von denen an dieser Stelle eine kleine Auswahl aufgezählt werden soll:
„Beim Lernen handelt es sich um das Aneignen von Wissen und Kenntnissen beispielsweise das Einprägen ins Gedächtnis. Das Lernen beinhaltet schwerpunktmäßig den Vorgang, mit Laufe der Zeit anhand von Erfahrungen, Einsichten oder Ähnliches zu Einstellungen und Verhaltensweisen zu gelangen, die durch Bewusstsein und Bewusstheit bestimmt sind.“ (LexiRom 1999, S. 1)
Zimbardo zufolge kann man „Lernen als eine Prozedur definieren, der zu relativ stabilen Veränderungen im Verhalten oder im Verhaltenspotential führt und auf Erfahrung aufbaut.“ (Zimbardo / Gerrig 1992, S. 227)
„Lernen ist das Aufnehmen, Verarbeiten und Umsetzen von Informationen. Lernen ist ein lebenslanger Prozess.“ (Schilling 1997, S. 159)
„Beim Lernen handelt es sich um den absichtlichen (intentionales Lernen), beiläufigen (inzidentelles wie implizites Lernen), individuellen oder kollektiven Erwerb geistiger, körperlicher und sozialer Kenntnisse und Fertigkeiten. Lernen wird aus lernpsychologischer Sicht als Prozess einer relativ stabilen Veränderung des Verhaltens, Fühlens oder Denkens aufgefasst.“ (Alisch et al. 2014)
Landläufig sehen wir Lernen als einen Prozess, dem ein definierter Anfang und ein ebensolches Ende zugedacht sind. Wir begreifen das Lernen so fälschlicherweise als etwas Statisches. Als eine Lerndauer, die es zu absolvieren gilt und an dessen Ende reproduzierbares Wissen steht - häufig nur zum einmaligen Abruf.
Lernen findet jedoch unentwegt statt, bewusst wie unbewusst, besitzt eine individuelle wie auch eine kollektive Komponente. Unsummen werden ausgegeben, um neue, immer bessere Lernmethoden zu entwickeln und sie der breiten Masse zugänglich zu machen. Lernfähige MitarbeiterInnen sind vitaler Bestandteil der Wirtschaft, sparen und bringen den Unternehmen Geld. Doch auch aus einem anderen Grund wird rund um das Lernen ein systematischer Forschungsaufwand betrieben: es liegt im Wesen des Menschen, zu lernen, es ist unser wesensimmanenter Drang, stetig kompetenter sein zu wollen (vgl. Buzan 1997, S. 211ff.).
Die akademischen Fachkräfte und ForscherInnen haben längst schon aufgezeigt, dass erfolgreiches Lernen die - technisch gesprochen - Funktionsweise des Menschen berücksichtigen muss. Unser Bildungssystem stellt Inhalte zur Verfügung und lässt uns mit der Aufnahme und Verarbeitung derselben allein im sprichwörtlichen Regen stehen. Niemand von uns hat in der Schule im Rahmen des offiziellen Stundenplans jemals richtiges Lernen vermittelt bekommen. Dabei hat die Forschung aufgezeigt, dass in der vorgegebenen Bandbreite menschlicher Eigenschaften Menschen Informationen unterschiedlich aufnehmen und verarbeiten. Am Anfang dieser Entwicklung stand die Entdeckung der spezifischen Funktionsareale und -weisen von linker und rechter Gehirnhälfte sowie die Erkenntnis, dass nicht alle Menschen diese Areale auf die gleiche Weise nutzen (vgl. Bannink 2012, S. 86ff.). Grob gesprochen sind manche von uns im Sinne der Verwendung des Gehirns links- beziehungsweise rechtslastig, doch auch die ausgewogene Verwendung beider Gehirnhälften wurde bei Untersuchungen festgestellt. Eine weitere bedeutende Entdeckung war die der unterschiedlichen Lerntypen, denn nicht jede/r nimmt Informationen auf dieselbe Art gleich gut auf. Hinsichtlich der Informationsaufnahme gibt es den „visuellen“, den „akustischen“ und den „kinästhetischen“ Typ. Beide Entdeckungen waren für sich fundamental und zeigen auf, wie komplex menschliches Lernen ist (vgl. Titschener 2013, S. 386).
Tatsächlich propagiert unser Bildungssystem ein Lernkonzept, das auf Nutzung der linken Gehirnhälfte bei visueller Aufnahme fußt - ein Pech für alle rechtslastigen Kinästheten (= expressive, kreative Personen, die am besten durch eigenständiges Probieren lernen). In der Folge zeigten die Buzan-Brüder mit Ihrem Konzept des Mindmappings, dass der Mensch am besten lernt, indem er Informationen miteinander verknüpft, also Assoziationen schafft (vgl. Buzan 2006, S. 35f). Dieser kurze Exkurs soll eines aufzeigen: Menschengerechtes Lernen ist ein hochkomplexer Prozess, den unser öffentliches Bildungsmodell nicht abzubilden vermag. Richtig lernen zu lernen bedeutet für das Individuum erst einmal zu verstehen, wie es selbst diesbezüglich beschaffen ist und funktioniert. Dies ist ein wichtiger Schritt, um Freude beim Lernen dauerhaft realisieren zu können. Auf Basis all dieser Erkenntnisse wurde mit der Zeit klar, dass wir am besten lernen, wenn alle Sinne im Lernprozess involviert sind und gefördert werden. Dieser Erkenntnis wird heute vor allem im Sprachunterricht Rechnung getragen (vgl. Kleinschroth 2000, S. 11ff).
Daneben zeigen unter anderem soziologische und philosophische Theorien, wie das Thema Lernen mit der Art und Weise verwoben ist, mit der wir die Realität wahrnehmen oder wie sehr dieses im ständigen Diskurs zwischen Gesellschaft, Bildungssystem und Wirtschaft steht. Aus der Vielzahl dieser Theorien werden an dieser Stelle zwei näher erörtert, nämlich der Konstruktivismus und die Communities of Practice. Der Konstruktivismus zeigt die individuelle Komponente des Lernens auf, er propagiert die eingangs angeführten Gedanken, dass jeder für seine Biographie eigenverantwortlich ist. Das Konzept der Communities of Practice hingegen adressiert das Lernen im Kollektiv und will aufzeigen, dass Lernen im sozialen Raum stattfindet und entgegen dem Konstruktivismus nicht individuell gedacht werden soll beziehungsweise kann. Die Synthese dieser beiden Theorien erscheint interessant und nennenswert.
3.2 Die Freude
Emotionale Zustände wirken auf Körper und Seele ein. Aus der klinischen Psychologie wissen wir um den Einfluss emotionaler Zustände und persönlicher Grundeinstellungen auf den Heilungsprozess kranker Personen. Menschen mit hohem Lebensoptimismus überleben schwere Krankheiten im Durchschnitt häufiger und besser als PessimistInnen. Emotionale Zustände manifestieren sich in uns und zeigen Wirkung auf jeder Ebene unseres Wesens. Unter diesem Aspekt ist Freude nicht allein erstrebenswert aufgrund eines situativen Wohlgefühls, sondern emotionale Grundlage eines zufriedenen und erfolgreichen Lebens. Hier gilt der Umkehrschluss, das Fehlen von Freude ist ein fundamentaler Verlust und wird vom Individuum über kurz oder lang auch als solcher empfunden. Derart kann Freude als Lebenskonzept begriffen werden und hilft uns dabei, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Heute ist uns Freude eher als Impuls, als temporärer Zustand begreiflich, der so häufig wie möglich erlebt werden will (vgl. Mourlane 2013, S. 27ff.).
Damit uns Freude als authentisches Gefühl und Lebensart (wieder) vertraut wird, müssen wir unser Visier im Hinblick auf die Freude neu justieren. In diesem Zusammenhang ist Gesellschaftskritik angesagt: Der starke Drang nach Individualismus und Selbstverwirklichung hat zu einer massiven Verschiebung unseres Wertesystems geführt. Was ab den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts massentauglich wurde, hat bis heute tiefe Spuren in der westlichen Industriegesellschaft hinterlassen. Der vor allem durch die Medien bekannte Psychiater Reinhard Haller attestiert uns in diesem Zusammenhang eine in den letzten Jahrzehnten in hohem Maß gestiegene Egozentrik. Die Gesellschaft ist insgesamt narzisstischer geworden. Das eigene Wohlgefühl wird mit immer weniger Rücksicht auf den Nächsten zur Maxime erhoben, das Gefühl ursprünglicher, nachhaltiger und auch in Gemeinschaft erlebter Freude ist dem Impulsgefühl des Lustgefühls gewichen - das Ausbleiben selber bewirkt in Verbindung mit den anderen Widrigkeiten des Lebens chronische Frustration. Unsere Frusttoleranz ist niedrig wie nie, unsere Konfliktfähigkeit sinkt kontinuierlich. So wird Freude nur mehr als egozentrische Größe zur Maximierung des eigenen Wohlfühlgewinns gesehen. Um den Schritt aus diesem emotionalen Gefängnis erfolgreich zu setzen, muss nachhaltige Freude als Konzept aufgefasst werden, welches es konsequent umzusetzen gilt (vgl. Mourlane 2013, S. 44ff.).
Zunächst folgen an dieser Stelle ein paar gängige Definitionen des Begriffs der Freude:
„Freude ist ein magischer Versuch, das erwünschte Objekt vollständig zu besitzen“ (Satre 1948, o.S.)
„Freude sorgt für Interaktion zwischen Menschen, auch wenn Triebe oder Triebbefriedigung nicht explizit vordergründig erstrebt werden. Menschen können Freude miteinander erleben ohne miteinander zu essen oder trinken.“ (Tomkins 1962, o.S.).
Während Satres Sichtweise der Freude zumindest ansatzweise an der Egozentrik schrammt, zeigt Tomkins den sozialen Aspekt uneigennütziger zwischenmenschlicher Kontakte, Freude zu erleben. Es gilt, die Freude wieder von der ausschließlichen eigenmotivierten Zielerreichung zu entkoppeln.
Es findet auch ein Umdenken darüber statt, als was Erfolg zu sehen und woran dieser zu messen sei. Die Burnout-Forschung hat den Karriere-Mythos entlarvt. Erfolg wird zunehmend als eine Lebensweise verstanden, die ausgewogen ist und dem/die Erfolgreiche/n und seiner/ihrer Umgebung in bestmöglichem Maße nachhaltig nützt (vgl. Mourlane 2013, S. 189ff.)
Eine jüngere Entwicklung, die wiederum die Erkenntnisse der klinischen Psychologie nutzt, geht der Frage nach, was erfolgreiche Menschen anders machen als der/die Otto-NormalverbraucherIn. Damit wurde die Geburtsstunde der Resilienzforschung eingeleitet. Der Zusammenhang zwischen nachhaltigem Erfolg und Freude ist per se zwingend und gemäß der neueren Forschung die logische Konsequenz resilienten Verhaltens. Resilienz ist als „Widerstandsfähigkeit gegenüber den Widrigkeiten des Lebens“ zu verstehen (vgl. Mourlane 2013, S. 14ff.).
Die Fähigkeit, den Widrigkeiten des Lebens selbstbewusst, selbstbestimmt und in inhaltlich konstruktiver Konfrontation zu begegnen, macht den Kern der Resilienz aus. Die Resilienz kann als Prozess verstanden werden, in dessen Voranschreiten der Einzelne die Verwirklichung der sieben echten Resilienzfaktoren anstrebt: „Emotionssteuerung“, „Kausalanalyse“, „Impulskontrolle“, „Realistischer Optimismus“, „Empathie“, „Selbstwirksamkeitsüberzeugung“ und Reaching-Out/Zielorientierung (vgl. Mourlane 2013, 44ff.). In dem Maße, in dem wir resilienter werden, steigt auch die Zufriedenheit mit uns selbst und unserem Leben, Freude manifestiert sich nachhaltig in uns. So begreifen wir Lernen auf positive Weise als überlebensfördernd und nicht mehr als bedrohlich.
3.3 Zwischenfazit
Es zeigt sich, dass Freude einer der wesentlichen Hauptmotoren erfolgreichen Lebens ist. Ein systematischer Zugang, um diesen Motor für sich anzuwerfen, ist die Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der Resilienzforschung, die heute hinreichend durch Ratgeberliteratur dokumentiert ist (vgl. Mourlane 2013). Die ausgewogene Kombination von Reflexionsarbeit und praktischen Anweisungen kann uns die Tür zu nachhaltiger Freude öffnen. In diesem Licht begreifen wir Lernen als Möglichkeitsprozess, um unser Leben selbstbestimmt und eigenverantwortlich erfolgreich zu gestalten. So löst sich die Inhomogenität von Lernen und Freude in uns auf und die freiwerdende Energie hilft uns, unsere Lebensbiographie proaktiv erfolgreich zu gestalten.
4. Der Konstruktivismus
4.1 Theorie
Der Gegenstand des Konstruktivismus ist die Stärkung des Individuums durch zwei Maßnahmen. Einerseits will er den Blick des Einzelnen für die objektiv erfahrbare Realität (= Wirklichkeit) schärfen, andererseits hebt er das Subjekt aus der klassischen LehrerInnen-SchülerInnen-Beziehung, indem das Subjekt autark wird und sowohl Lernende/r als auch Lehrende/r ist (vgl. Siebert 1998, S. 13ff.).
Der Konstruktivismus erklärt, dass die Wirklichkeit ein beobachtungsabhängiges Konstrukt ist. Das bedeutet, wir sollen davon ausgehen, dass unsere erlebte Welt außerhalb unseres Erlebens zwangsläufig nicht ebenso erfahren wird. Im Gegensatz hierzu leben wir in unserer alltäglichen Lebenswirklichkeit einen naiven Realismus. Das heißt, wir nehmen an, die Welt (= Realität, Wirklichkeit) sei tatsächlich so, wie wir sie mit unseren Sinnen erleben. Im gleichen Atemzug ist der alltäglichen Surrealismus zu nennen. Das bedeutet, in oder außerhalb von uns liegende Umstände verzerren unser Bild der Wirklichkeit und hindern uns daran, die Realität in größtmöglichem Ausmaß objektiv wahrzunehmen. Augenscheinlich wird dies im Kontext von erlittenen Traumata oder Phobien. Entsprechend erklärt uns der Konstruktivismus, dass unsere Innenwelt nicht einfach nur eine objektive Außenwelt widerspiegelt. Natürlich gibt es intersubjektive, also von mehreren oder allen Menschen gleichartig empfundene Realität. Andererseits stellen sich konkrete Situationen einzelnen Menschen anders dar. Der Konstruktivismus will also aufzeigen, dass wir die Realität grundsätzlich subjektiv wahrnehmen. Durch objektive Beobachtung der Außenwelt können wir diesen subjektiven Impuls jedoch durchbrechen und durch bewusste Beobachtung uns der objektiv wahrnehmbaren Realität annähern - wir werden kompetenter in der Beurteilung der Realität (vgl. Siebert 1998, S. 13ff.).
Darüber hinaus verneint der reine Konstruktivismus die tradierte LehrerInnen-SchülerInnen-Beziehung zugunsten eines autarken Individuums, das LehrerIn wie SchülerIn zugleich ist. Vereinfacht ausgedrückt: es gibt keine/n LehrerIn und keine/n SchülerIn. Das Subjekt lernt und ist zeitgleich sich selbst Lehrende/r. Dieser Ansatz hat im Vergleich zum vorigen Punkt gesellschaftliche Auswirkung. Unsere Gesellschaft baut auf einer Hierarchie von Autoritäten auf, welche mit diesem Ansatz fundamental geleugnet wird, die normativen Vorgaben eines / einer Lehrenden („MeisterIn“) werden nunmehr relativiert der SchülerIn („Lehrling“) setzt sich wertfrei kritisch mit dem Dargebrachten auseinander, definiert seine/ihre eigene Position, die jene des/der Lehrenden entsprechen kann oder nicht. Der/Die Lehrende wird in jedem Fall nicht mehr als normatives Maß gesehen, sondern eher deklarativ (vgl. Siebert 1998, S. 35ff.).
Die Kombination dieser beiden Punkte ermöglicht es dem Subjekt in jedem Fall, sein In-Der-Welt-Sein kritisch zu hinterfragen. Das denkende, fühlende Subjekt kann zu seinem eigenen Verhalten in Distanz gehen und dieses objektiv bewerten, analysieren und adaptieren: Die konstruktivistisch vorgehende Person kann sich selbst - der Existenz des naiven Realismus bewusst - kritisch beobachten und annehmen, dass zwischen Innen- und Außenwahrnehmung ein Spannungsfeld bestehen kann. Ohne Selbstwertverlust ist so die kritisch-objektive Selbstbetrachtung möglich (vgl. Siebert 1998, S. 35ff.).
Während die Erkenntnisse des Konstruktivismus dem/der Einzelnen interessante Werkzeuge zur Selbstbetrachtung und -verwirklichung in die Hand geben, scheint die flächendeckende Umsetzung seiner Thesen in der Gesellschaft fraglich. Denn augenscheinlich setzt der Konstruktivismus einen abgeklärten, in hohem Maße selbstbestimmten Menschentypus voraus. Dem stehen Menschen gegenüber, die - vollkommen wertfrei betrachtet - die klassische LehrerInnen-SchülerInnen-Beziehung beispielsweise sehr wohl anstreben, da für sie der Wert des Lernens sehr wohl auch in der Interaktion mit der sozialen Umgebung zu suchen ist. - Dies bringt uns zur Betrachtung der zweiten hier vorgestellten Theorie der Communities of Practice.
4.2 Zwischenfazit
Der Konstruktivismus mag in seiner reinen Form gesellschaftlich wohl zu provokant - unrealistisch - sein, doch hält er gute Gedanken parat, sich selbst ohne Selbstwertverlust kritisch-objektiv zu betrachten. In Kombination mit den Erkenntnissen und Methoden der Resilienz scheint er sogar ideal zu sein, um seine Lebensbiographie proaktiv zu gestalten, da die eigenen Blinden Flecken (Betriebsblindheit) schonungslos aufgedeckt werden (vgl. Siebert 1998, S. 96ff.).
Auch innerhalb der konstruktivistischen Tradition ist man sich durchaus bewusst, dass die ungefilterte Verwirklichung der Theorie so wäre, als würde man das Schwert unter die Menschen bringen. Daher bemüht man sich, die sanfte Umsetzung des Konstruktivismus zu propagieren:
„In the very nature of teaching and learning there is humility. there is no pupil and no teacher, there is only teaching and learning which is going on in me. I am learning and I am also teaching myself; the whole process is one.“ (Autor Unbekannt)
5. Communities Of Practice
5.1 Theorie
Anders als der Konstruktivismus, dessen Prämisse die Individualität des Lernens ist, gehen die Communities of Practice davon aus, dass Lernen größtenteils im sozialen Raum stattfindet.
Sie gehen von der Überzeugung aus, dass Lernen etwas Soziales ist und sich überwiegend aus der Erfahrung der Teilnahme am täglichen Leben manifestiert. Die von Etienne Wenger und Jean Lave (vgl. Wenger 1998, S. 3) konzipierte Theorie geht von einem Partizipationsprozess in einer gemeinschaftlichen Praxis aus. Die Communities of Practice gibt es überall in Schule, Arbeit, zu Hause und in der Freizeit. Sie sind und werden von Menschen geformt, die sich in einem gemeinsamen Lernprozess in einem geteilten Lebensbereich engagieren - beispielsweise wie ein Naturvolk, das überleben will oder eine Musikband, die einen neuen Musikstil ausprobieren und etablieren möchte. Es sind Menschen, die ein gleiches Interesse oder eine Leidenschaft teilen und gemeinsam lernen wollen, es immer besser zu tun. Aus diesem gemeinsamen Lernen etablieren sich mit der Zeit gemeinsame Praktiken, die zweierlei verkörpern: gemeinsame Praktiken und persönliche Beziehungen - beide entstehen durch gemeinsame Unternehmungen der Gemeinschaft, weshalb Lave und Wenger von Communities of Practices sprechen (vgl. Wenger 1998, S. 145). Hierbei kann es sich um formelle oder informelle Organisationen handeln, betitelt oder namenlos. Gleich ist ihnen, dass ihre Mitglieder zusammenkommen und in einem gemeinsamen Engagement Aktivitäten ausführen und diese dabei schulen (vgl. Wenger 1998, S. 43ff.).
Die Communities of Practice werden durch die Schlagworte Bereich, Gemeinschaft und Praxis konstituiert. Der Bereich wird nicht einfach nur durch Freundschaft oder die Verbindung von Menschen in einem Netzwerk etabliert, sondern weil Menschen aus Leidenschaft für einen gemeinsam geteilten Interessensbereich zusammenkommen. Dabei entsteht Gemeinschaft, da die Mitglieder die Interessen ihres Bereichs verfolgen, sich in gemeinsamen Diskussionen sowie Aktivitäten engagieren, einander unterstützen und Informationen austauschen. Sie bauen Beziehungen zueinander auf, die eine Möglichkeit bieten, vom/von der jeweils Gegenüberstehenden zu lernen. Darüber hinaus sind die Mitglieder der Communities of Practice Praktiker und etablieren so eine in der Gemeinschaft anerkannte und gutgeheißene Praxis. Sie teilen ein gemeinsam geteiltes Repertoire an Erfahrungen, Techniken, Methoden und Geschichten, um mit Problemen umzugehen. Hierzu bedarf es Zeit und anhaltender Interaktion (vgl. Wenger 1998, S. 72 ff.).
So wird Lernen nicht als individuelle Aneignung von Wissen verstanden. Lave und Wenger platzieren den Lernprozess innerhalb sozialer Beziehungen, in Situationen von Ko-Partizipation. Lernende eigenen sich nicht hauptsächlich Modelle oder Strukturen an, um die Welt zu verstehen, sondern beteiligen sich an Rahmen, die schon Struktur haben, weil sie Teil einer Commuity of Practice sind. Lernen umfasst also den Prozess des Aktivseins in den Praktiken sozialer Gemeinschaften und in der Konstruktion von Identitäten bezüglich dieser Gemeinschaften (vgl. Wenger 1998, S. 143ff.).
Wenn eine Person zu einer Communitiy of Practice stößt, muss sie sich zunächst am Rand ansiedeln und so in der Peripherie Tätigkeiten ausüben, die nicht zu den Schlüsseltätigkeiten gehören, die von länger dienenden Mitgliedern ausgeübt werden. Mit steigender Kompetenz nehmen sie in stärkerem Ausmaß an den Haupttätigkeiten der Community teil. So entwickeln sie sich von legitimer peripherer Partizipation zu voller Partizipation in Hauptaktivitäten. In diesem Zusammenhang wird Lernen nicht als Aneignung von Wissen verstanden, sondern als Prozess sozialer Partizipation. Um vollwertiges Mitglied zu werden und vollumfänglich in den Lernprozess involviert zu sein, beinhaltet dies die Auseinandersetzung mit der Identität der Gemeinschaft, mit dem Erlernen der Fachsprache (Diskurssprache) und einer Handlungsweise, die in dieser Gemeinschaft sinnvoll ist (vgl. Wenger 1998, S. 173ff.).
Diese Art zu lernen beinhaltet die ganze Person, wie sie in dieser Welt lebt. Aus dieser Sicht wird unser Leben durch zwei Sachverhalte geprägt: einerseits durch die in den Community of Practice angeeigneten Kompetenzen andererseits durch die Erfahrungen unseres allgemeinen In-Der-Welt-Seins. Diese Kompetenzen und Erfahrungen können sich sehr ähnlich sein, sich also kongruent verhalten oder aber sehr divergieren. Beginnt das eine das andere zu ändern, findet ein Lernprozess statt. Lernen ist somit das Zusammenspielen sozialer Kompetenzen mit persönlichen Erfahrungen. Lernen kombiniert persönliche Entwicklung und Veränderung von sozialen Strukturen (vgl. Wenger 1998, S. 131).
Daraus folgernd lässt sich das Konzept sozialer Lernsysteme auf viele soziale Institutionen anwenden: Fachdisziplinen, Industrie, Wirtschaft, Betriebe, Organisationen und Gemeinden. Für Individuen bedeutet diese Perspektive, dass sie dynamische Communities of Practices finden müssen, ob zentral oder peripher und einen bedeutungsvollen Weg durch diese Gemeinschaften gehen müssen. Für Communities of Practice bedarf es einer Balance zwischen Prozessen im Zentrum und an den Grenzen, also einer Balance zwischen zentralen und peripheren Prozessen, damit die Community einen starken Kern hat und an der Peripherie Verbindungen zu anderen Communities of Practice pflegen (vgl. Wenger 1998, S. 134).
Die Währung dieses Systems sind Kollegialität, Reziprozität, Expertise, aktive Beiträge zur Praxis und Verhandlungseinbindung hinsichtlich der Lernagenda (vgl. Wenger 1998, S. 12).
5.2 Zwischenfazit
Das Konzept der Communities of Practice bildet einen wichtigen Gegenpol zur individuumslastigen Konzeption des Konstruktivismus. Es zeigt, dass das Leben nicht nur als unentwegte Bestätigung des Individuums zu sehen ist, sondern als wesentliche Komponente die authentische Integration in soziale Systeme fordert, da dies wesenstypisch für uns ist. So können wir uns nicht nur als Welt voller Einzelmenschen verstehen, sondern als eine Menge eigenverantwortlicher, selbstwirksamkeitsüberzeugter Menschen, die aus freiem Willen zu einer Anzahl von Gemeinschaften gehören und für diese wertvoll sind.
6. Zusammenfassung und Reflexion
Das erfolgreiche Meistern des eigenen Lebens liegt in der Verantwortung eines jeden von uns. Wir sind ArchitektIn, BauherrIn und BewohnerIn jenes Gebäudes, das wir gemeinhin als Lebensbiographie bezeichnen. Ein erfolgreich geführtes Leben ist wesentlich von unserer Fähigkeit zu lernen und das Gelernte sinngemäß umzusetzen abhängig. Unser Bildungssystem hat uns den Start in die Lernbranche nicht gerade vereinfacht, aus dieser Zeit haben viele von uns eine resignierende und abweisende Haltung gegenüber dem Lernen im Allgemeinen eingenommen. Die Fähigkeit zur authentischen und nachhaltigen Freude müssen wir uns oft erst mühevoll aneignen. Dies ist aber essentiell, da die Freude der Brennstoff ist, aus der die Motivationskraft zum lebenslangen Lernen generiert wird. Um uns von den Verknöcherungen unserer Bildungsprägung befreien zu können, kann es hilfreich sein, sich mit den Konzeptionen unterschiedlicher Lerntheorien auseinanderzusetzen, da sie unseren Blick für die Realität und alternative, hilfreiche Muster schärfen können. Wir sind individuell-kollektive Wesen, daher gilt es uns in beide dieser Richtungen hin zu stärken. Konstruktivistische Muster helfen uns, individuell autark zu werden, jene der Communities of Practice stärken unser soziales Wesen. Gemeinsam zeigen beide jedoch, dass das Prinzip des Lernens existentiell ist: kein erfolgreiches Leben ohne die Bereitschaft, lebenslang zu lernen. Die Ergebnisse der Resilienzforschung können dabei hilfreich sein, verloren gegangene Freude wiederzuentdecken und die eigene Persönlichkeit im Allgemeinen zu stärken.
Auch wenn wir es uns häufig nicht bewusst sind, mit fortschreitendem Lernprozess findet auch eine Rückkopplung zu unserer Persönlichkeit statt – wir werden selbstbewusster durch das neue Wissen, das uns ermöglicht, die eigenen Grenzen zu erweitern. Wir werden persönlich kompetenter und erleben dadurch auch viel mehr Freude im Allgemeinen.
Erfolgreiche Menschen haben sich irgendwann im Leben zwei konkrete Fragen gestellt und für sich korrekt beantwortet: Wer bin ich? Und Was will ich? Mit den Antworten auf diese Fragen gingen sie proaktiv daran, ihr Leben zu verändern (= ihre Lebensbiographie neu zu schreiben) indem sie sich Ziele setzten, Strategien definierten, diese umzusetzen und die Umsetzung (= Erfolg) der Pläne in die Realität regelmäßig kontrollierten - und das alles in einer Atmosphäre unentwegten Lernens.
Literaturverzeichnis
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