Probetext: Unbewusstes Lernen in der Psychologie der ehemaligen Sowjetunion
Die Auswirkungen unbewusster Faktoren auf das Lernen - Ansätze der Psychologie der ehemaligen Sowjetunion: die Untersuchungen von Sholomij
Unbewusste Lernfaktoren in der Psychologie der ehemaligen Sowjetunion
Unbewusste Faktoren haben in der Psychologie der ehemaligen Sowjetunion ein wichtiges Thema gebildet. Äusserlich kommt dies dadurch zum Ausdruck, dass der Thematik des Unbewussten ein Kongress gewidmet worden ist (Prangishvili, 1978) Zwei Kongressbände mit insgesamt über 2000 Seiten geben die verschiedenen Positionen wieder, die damals zur Diskussion gestanden sind. Gleichzeitig legen sie auch Zeugnis dafür ab, dass die Psychologie der ehemaligen Sowjetunion unbewusste Faktoren tatsächlich als relevant angesehen haben.
Inhaltlich kommt die Beachtung des Unbewussten durch die Einstellungstheorie (teoria ustanovka) von Uznadze (1966) zum Ausdruck; ihr Ansatz hat weit über die Grenzen der ehemaligen Sowjetunion hinaus Beachtung gefunden (vgl. Matthäus, 1978). Nicht zuletzt ist die Einstellungstheorie in manchen westlichen Ländern und auch in den USA in einer indirekten Art und Weise einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden: Die Suggestopädie (Lozanov, 1973, 1978) und das sich auf sie abstützende Superlearning können (vgl. Rühl, 1983) im Kontext und auf der Folie der Einstellungstheorie gesehen werden - ein Faktum, das bereits von Lozanov (Lozanov 1978) und damit dem Begründer der Suggestopädie dokumentiert wird, indem dieser in seiner Arbeit explizit auf wichtige Vertreter der Einstellungstheorie Bezug nimmt.
Neben den erwähnten Arbeiten des Kongresses und den Arbeiten von Uznadze finden sich in der Literatur verschiedene Ansätze, die sich ebenfalls mit der Rolle unbewusster Faktoren beschäftigen, ohne dass diese aber explizit im Kontext der Einstellungstheorie positioniert werden. Im Folgenden wird einer dieser Ansätze aufgegriffen und vorgestellt.
Die Untersuchungen von Sholomij
Sholomij führte seine Untersuchung an Kindern durch. Sie wurden vorerst darüber instruiert, wie sie Substantive der russischen Sprache 4 verschiedenen Kategorien zuzuordnen hatten:
Der Kategorie 1 waren die Substantive dann zuzuordnen, wenn sie unbelebte Gegenstände bezeichneten und im Genitiv standen.
Der Kategorie 2 waren die Substantive zuzuordnen, wenn sie unbelebte Gegenstände bezeichneten und im Dativ standen.
Handelte es sich um Substantive, die Lebewesen bezeichneten und im Genitiv standen, mussten sie der Kategorie 3 zugeteilt werden
Handelte es sich um Substantive, die Lebewesen bezeichneten und im Dativ standen, musste die Kategorie 4 gewählt werden.
Die Zuordnung zu den einzelnen Kategorien wurde den Kindern ausführlich erklärt und mit ihnen auch ausführlich geübt. Wie der Autor anmerkt, stützte sich die Instruktionsphase auf die Methode von Galperin und damit auf eine Methode ab, die nach den damaligen pädagogischen Erkenntnissen eine optimale Instruktion und Lernen ermöglichte. Sholomij stellte auf dieser Grundlage denn auch sicher, dass alle Kinder in der Lage waren, die entsprechende Zuteilung vorzunehmen.
In einer zweiten Phase wurde den Kindern Übungsmaterial offeriert, das sie selbständig bewältigen mussten. Dabei wurde einem Teil der Kinder eingeschränktes Übungsmaterial angeboten: Es kamen in diesen Übungsbeispielen lediglich Substantive vor, die den Kategorien 1, 2 und 4 zugeordnet werden mussten Substantive, die der Kategorie 3 zugeordnet werden mussten, fehlten bei den Übungsmaterial. Das Fehlen der Substantive aus der Kategorie 3 wurde den Kindern nicht mitgeteilt. In einem letzten Schritt wurden den Kindern Substantive angeboten, die alle 4 Kategorien abdeckten. Dass im Rahmen dieses letzten Schrittes Substantive aus allen 4 Kategorien zu bewältigen waren, wurde den Kindern ebenfalls nicht mitgeteilt.
Ausgewertet wurden die Ergebnisse des Experimentes auf die Frage hin, ob die Präsentation des eingeschränkten Übungsmaterials Auswirkungen auf die Qualität hatten, in der die Zuordnung zu den 4 Kategorien erfolgte.
Auswertung der Untersuchung
Die Auswertung erbrachte zwei wichtige Ergebnisse:
Zuerst einmal ist festzustellen, dass in einem signifikanten Masse die Kinder die korrekte Zuteilung nicht mehr anwenden: Obwohl dies bei einigen Substantiven notwendig wäre, werden diese nicht der kritischen Kategorie 3 zugordnet. Die Kinder gehen von einer Zuteilung aus, die nicht aus 4, sondern aus 3 Kategorien besteht. Es hat sich, wie Sholomij anmerkt, offensichtlich ein neues Zuordnungsmodell entwickelt, welches nur drei Kategorien kennt.
Aus den verbalen Äusserungen, die von den Kindern im Anschluss an die letzte Phase erhoben wurden, geht hervor, dass sie sich ihrer Fehler nicht bewusst sind. Es wäre, wie der Sholomij bemerkt, zu erwarten gewesen, dass sich die Kinder darüber im Klaren sind, bei der Lösung der Aufgaben nicht so vorgegangen zu sein, wie die Lehrperson dies vorgegeben hat - doch ein Kommentar in einer solchen Form kam nicht im Rahmen des Experimentes vor Sholomij (1978, S. 81).
Ansätze zu einer neuen Form des Unterrichts
Sholomij geht in seiner Interpretation der Versuchsergebnisse vom Faktum aus, dass die Zuteilung zu den einzelnen Kategorien den Kindern auf einer bewussten Eben erklärt und mit ihnen auch auf einer bewussten Ebene geübt worden ist. Auf dieser bewussten Eben ist das Vorgehen denn auch verstanden worden, und es ist damit auch ein bewusst verfügbares und geeignetes Modell vorhanden gewesen, das es ermöglichte, die anstehenden Aufgaben zu lösen. Unabhängig von diesem Modell und unabhängig von den bewusst erworbenen Anweisungen, nach denen die Kategorisierung vorzunehmen war (S. 82), scheint im Gehirn aber ein Vorgang abzulaufen, bei dem ein Mechanismus tätig wird, der die bewusst gesteuerte Vorgehensweise überprüft: Auch wenn ein Mensch bereits über ein Modell der Realität verfügt, welches ihm an und für sich ein adäquates Handeln bereits ermöglicht, stellt nach der Meinung Sholomijs dieser Mechanismus – und zwar unabhängig vom Bewusstsein - die Frage, ob es keine zur Realität korrespondierende Modelle gibt, die diese Realität besser abbilden. Je nachdem kommt dieser Mechanismus zum Schluss, dass optimalere Modelle möglich sind.
Wie die Experimente gezeigt haben, kann in einem solchen Moment dieses neue Modell das Verhalten der Menschen steuern, ohne dass sich der Mensch darüber bewusst ist.
In einer späteren Arbeit bezeichnet Sholomij diesen Mechanismus in einem, wie er festhält, deskriptivem Sinne als unwillkürliche optimierende Eigenregulierung des Denkens, den er mit der Abkürzung NOSM ‘belegt.
Praktische Ausnutzung der Ergebnisse
Im 1978 publizierten Experiment wirkt sich der von Sholomij erwähnte Mechanismus negativ aus: Er führt die Versuchspersonen in die Irre und veranlasst sie zu Fehlern. Sholomij (2005, S. 48) betont allerdings, dass es falsch wäre, diesen Mechanismus als Feind zu betrachten, welcher gutgemeinte pädagogisches Absichten durchkreuzt. Sholomij geht vielmehr davon aus, dass dieser Mechanismus auch in einem positiven Sinne ausnützt werden kann, weil er, wenn er geschickt eingesetzt wird, auch eine Hilfe darzustellen vermag. In seiner Arbeit von 1999 – die dem Lernen mit dem Einbezug elektronischer Hilfsmittel gewidmet ist – gibt Sholomij denn auch ein Beispiel dafür, wie eine positive Hilfe aussehen kann: Sholomij zeigt, dass mit einer geschickten Auswahl von Übungsbeispielen Fehlannahmen Lernender richtig gestellt werden können. Diese und andere Beobachtungen nimmt Sholomij zum Anlass, den generellen Nutzen des Mechanismus aufzuzeigen. Nach der Auffassung von Sholomij kann man hier sogar eine „neue Form des Unterrichtens“ (S. 48) erkennen - eine Unterrichtsform, bei welcher die im Rahmen des Lernens mögliche unbewusste Selbstkorrektur und damit auch die unbewusste Selbstregulierung ausgenützt werden. Um dies zu erreichen, muss das Lernumfeld dann allerdings so gestaltet werden, dass das bewusste Lernen des Subjektes Hand in Hand geht mit der Selbstregulation, die auf unwillkürlichen und damit auch auf einer der bewussten Steuerung entzogenen Prozessen beruht. Gelingt es, die Lernvorgänge auf diesen beiden Ebenen zu synchronisieren, ist mit einer Optimierung von Lernprozessen zu rechnen.
Bezug zur Teoria Ustanovka
Bei seiner Arbeit stützt sich Sholomi auf die theoretischen Überlegungen ab, die Shannon im Zusammenhang mit der Homöostase angestellt hat. Einen direkten Bezug zur Einstellungstheorie nimmt er jedoch nicht vor. Dies ist deshalb bemerkenswert, weil sich ein solcher Bezug durchaus herstellen lässt. Motiviert wird dieser Bezug durch den Einstellungstheoretiker Chatchapuridze 1973). Chatchapuridze arbeitete im Rahmen des Fremdsprachenunterrichtes mit unterschwelligen Wahrnehmungsprozessen und konnte in seinen Experimenten zeigen, dass ein geschicktes Einsetzen dieser unterschwelligen Wahrnehmungsprozesse zu einer Optimierung des Lernens führen kann. Im Anschluss an die Versuchsergebnisse hält Chatchapuridze fest, dass ganz generell unbewusste Faktoren beim Lernen eine Rolle spielen. Diese unbewussten Faktoren gilt es, ebenfalls ganz generell, nach der Auffassung von Chatchapuridze in jedem pädagogischen Kontext zu berücksichtigen: Unbewusste und bewusste Aspekte des Lernens müssen im Auge behalten werden. Zu guten Ergebnissen führt dies aber nur, wenn unbewusste und bewusste Prozesse, wie Chatchapuridze (S. 69) dies formuliert, eine Einheit bilden: Nur die koordinierte, einheitliche Ausschöpfung bewusster und unbewusster Prozesse kann beim Erlernen einer Sprache und ganz generell bei der Wissensaneignung den Erfolg garantieren.
Die Diskussion von Sholomij im Zusammenhang mit seinen Ergebnissen greift das Postulat von Chatchapuridze auf und verlangt ebenfalls diese einheitliche Ausschöpfung.
Literatur
Lozanov Georgi: Suggestology and Outlines of Suggestopedy. Gordon & Breach, 1978
Matthäus, Wolfhart: Sowjetische Denkpsychologie. Verlag für Psychologie, Hogrefe, 1988
Rühl, Paul Gerhard: Tätigkeit - Einstellung – Fremdsprachenunterricht. Tübingen, Gunter Narr, 1983 Uznadze, Dimitrij: The Psychology of Set. Consultants Bureau, New York 1966
Лозанов Г. : Основы суггестологии. София, 1973
Прангишвили, А. С. , А. Е. Шерозия, Ф. В. Бассина : Бессознательное. Природа. Функции. Методы исследования. Том I. Тбилиси: Мецниереба, 1978
Прангишвили, А. С., А. Е. Шерозия, Ф. В. Бассина: Бессознательное. Природа. Функции. Методы исследования. Том II. Тбилиси: Мецниереба, 1978
Шоломий, К. М.: Об одном виде саморегуляции мышления. Вопросы психологии, 6, 1979, 77 – 85.
Шоломий, К. М: Когнитивно-психологический подход к компьютерному обучению школьным предметам. Вопросы психологии 5, 1999, 36-49.
http://www.portalus.ru/modules/psychology/print.php?subaction=showfull&id=1107686493&archive=1120045907&start_from=&ucat=27& 24 09 2013
Хачапуридзе Б.И. Проблема скоростного обучения разговорной иностранной речи. Методы интенсивного обучения. 1973, .53-69.