Referenztext 1

Auszug aus „Wie inszeniert sich die Shopping Mall Bikini Berlin“ aus dem wirtschaftsgeographischen Projektseminar: „BIKINI BERLIN“: Neues Shoppen in der City-West“

Erstellt von For_all_your_writerly_needs vor 9 Jahren

3. Theoretische Grundlage

Seit langem geht mit einem mehr an Freizeit, Wohlstand und einem gesellschaftlichen Wertewandel ein verändertes Konsumverhalten einher: statt eines reinen bedarfsorientierten Konsums verstärkt sich der Wunsch nach einem freizeitorientierten Erlebniskonsum, welcher die Erlebnisqualität als wichtigstes Kaufkriterium ansetzt. Die Konsumerlebnisse scheinen wichtiger zu werden als die Konsumgüter selbst und werden zunehmend nach emotionalen, sinnlichen und ästhetischen Maßstäben beurteilt. (vgl. Selle 2002, S. 24 f.)

Von diesen geänderten Konsum- und Einkaufsgewohnheiten profitieren die Shopping-Center, welche im Gegensatz zu den Kauf- und Warenhäusern trotz struktureller und konjunktureller Probleme des stationären Einzelhandels seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert florieren. (vgl. Besemer, 2009, S. 1056)

„Als 'Keimzelle urbanen Lebens' treffen sie den aktuellen Zeitgeist und vermitteln dem Kunden ein emotionales Einkaufserlebnis.“ (Besemer, 2009, S. 1056)

Allerdings stehen diese, vor allem aus stadtplanerischer Sicht, auch in der Kritik unter anderem wegen ihrer Geschlossenheit und der Verlagerung des Einkaufens aus dem öffentlichen Raum einer Einkaufsstraße in den mehr privaten Raum und wegen ihrer häufig stereotypen Gestaltungsmuster. So schreibt Seemann: „Viele Shopping-Center, auch jüngerer Entstehungszeit, haben keine wirkliche Architektursprache, passen sich, bis auf die wenigen Vorgaben des Bebauungsplans, stilistisch nicht in die Umgebung ein, setzen sich nicht ab und stechen nicht durch eine innovative und ganzheitliche Formsprache, einer besonderen Konstruktion, der Wahl moderner Materialien oder ähnlichem hervor.“ (Seemann, 2008, S. 74)

In Folge dessen lassen sich in den letzten Jahren verstärkt Bemühungen von Centerbetreiber*innen erkennen, neue, innovative und offenere Formen von Shopping-Centern zu realisieren, welche unter anderem die Dualität von öffentlichem und privatem Raum durchbrechen sollen und somit das von Stadtplaner*innen und Soziolog*innen häufig kritisierte Verschwinden des öffentlichen Raumes in den Städten zu minimieren.

Die Szenografie, welche ursprünglich die Gestaltung eines Bühnenbildes im Theater zum Gegenstand hatte, dient in verschiedenen Kontexten immer häufiger als Gestaltungsmedium, um eine Atmosphäre zu schaffen, die ein sinnliches und ästhetisches Konsumerlebnis ermöglicht.

Der Rückgriff auf gestalterische Mittel der Bühnenkunst zur Schaffung einer inszenierten Konsumwelt liegt nahe, folgt man, wie zum Beispiel Rieper (2005), der soziologischen Theatermetaphorik von Erving Goffmann und versteht den öffentlichen Raum als Bühne einer „hochstilisierten Selbstdarstellung“ in seiner sozialen Dimension (vgl. Häußermann/Läpple/Sieble, 2008, S. 301).

„Das Einkaufszentrum oder Shopping-Center SC) ist im Rahmen des alltäglichen Handlungssets „Shoppen“ – im Anschluss an die Theatermetaphorik von Erving Goffmann (1980, 2001) zur Beschreibung alltäglicher Selbstdarstellungsmechanismen von Einzelpersonen und Gruppen - als Ort bzw. Raumkonstruktion verschiedener Vorder- und Hinterbühnen zu verstehen, die privat-wirtschaftlich etabliert und inszeniert (betrieben) werden […].“ (Rieper, 2005, S. 133) Die Disziplin der Szenografie erfuhr seit den 1990er Jahren eine enorme Professionalisierung und ihre Techniken finden heute Anwendung in vielen Bereichen jenseits der klassischen Bühnenkunst wie Museen, Messen, der Stadtplanung und vielen weiteren. Mit Hilfe der Szenografie werden heute somit Räume auch außerhalb der Theater inszeniert.

„In der Betonung des Prozesshaften, Ereignishaften und Konstruierten verbinden sich ehemals gestalterische Genres von Design über Architektur, Theater, Ausstellung, Messe und Museum zu inszenatorischen Gesten von Räumlichkeit.“ (Müller von der Haegen, 2004)

Innerhalb des Mikrokosmos' einer Shopping Mall könnte somit eine kontrollierte Erlebniswelt, eine stimmungsvolle Konsumwelt geschaffen werden, indem die Inszenierung eine umfassende Kontrolle über alles sinnlich Wahrnehmbare ausübt. Mit den Mitteln der Szenografie kann eine Atmosphäre im Sinne Gernot Böhmes, ein „gestimmter Raum“ konstruiert werden. (vgl. Böhme, 2006, S. 16) Um zu analysieren ob, in welcher Form und mit welchem Ziel im Bikini Berlin eine szenografische Entwurfsstrategie der Architektur und Raumgestaltung eingesetzt wurden, ist es daher notwendig, die einzelnen Elemente der Inszenierung zu identifizieren und zu interpretieren.

Nach Prof. Rebekka Reich sind Raum und Zeit grundlegende und zusammenhängende Komponenten der Szenografie und daher sowohl Raum bildende als auch theatrale und mediale Elemente ihre Gestaltungsmittel: Raum, Licht, Ton, Projektion, Objekt, Text, Bewegung, Material, Geruch, Schauspiel, Tanz, Musik, Geräusch … Als wesentliche Elemente identifiziert sie eine „sinnliche Architektur, Emotionalität, Bilder, neue Medien, Eintauchen und Unterhaltung“. (Internetquelle 3)

Folgende Charakteristika werden wiederkehrend in der Literatur als bezeichnend für die szenografische Gestaltung genannt:

Szenografie ist inszenatorisch, alle Objekte und ihr Zusammenspiel sind gelenkt, konstruiert und somit konstruiert, um eine bestimmte Atmosphäre zu schaffen und einen Inhalt zu transportieren. Da ein Inhalt vermittelt, bei den Konsument*innen eine Wirkung erzielt werden soll, ist Szenografie narrativ. Sie arbeitet mit Zeichen und Symbolen, nimmt historischen Bezug, ist Präsentation und Repräsentation zugleich. Die Atmosphäre eines Raumes wird häufig gleichgesetzt mit der Befindlichkeit in diesem, welche über Sinnesempfindungen erzeugt wird. Daher ist Szenografie sinnlich und emotional, sie versucht bei den Rezipienten alle Sinnesorgane anzusprechen. Ihre Elemente sind sowohl visuell, haptisch und auditiv, können aber auch den Geruchs- und Geschmackssinn mit einbeziehen. An einer szenografischen Inszenierung sind gewöhnlich Akteur*innen aus unterschiedlichen Fachbereichen wie der Architektur, Design, Marketing, dem Theater oder der Stadtplanung beteiligt; sie ist somit interdisziplinär und integrativ.

Sie ist transformativ und ermöglicht es den Raum entsprechend sich ändernder Bedürfnisse anzupassen und ein immer wieder neues Erleben und Erfahren zu inszenieren.

Insgesamt handelt es sich um eine hybride Raumkunst, welche sowohl konkrete und virtuelle Eigenschaften hat, statische und mobile Domains schafft, öffentliche und private Sphären beinhaltet, präsentiert und repräsentiert. Ziel der kommenden Analyse und Interpretation der Architektur und Raumgestaltung im Bikini Berlin ist es, deren einzelnen Elemente wie Form, Licht, Ton, Geruch, Material, Text, Objekt, Farben, Bewegung und deren Beziehung zueinander zu erfassen, zu überprüfen, ob sie oben genannte Charakteristika aufweisen und die Aussageabsicht zu deuten.

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