Repräsentation des Bösen in den Räubern und im Findling
Friedrich Schillers Drama „Die Räuber“, das im Jahre 1781 erschien und Heinrich von Kleists Erzählung „Der Findling“ aus dem Jahre 1811 haben mindestens eine Gemeinsamkeit: Beide handeln von einer gescheiterten Vater-Sohn-Beziehung und deren fatalen Folgen, die in beiden Geschichten zum Tod aller Hauptcharaktere führen.
Die Umstände hierfür sind jedoch in beiden Geschichten unterschiedlich. Im Drama „Die Räuber“ geht es um die Brüder Karl und Franz von Moor, deren Charaktere sich beide aus verschiedenen Gründen ins Negative entwickeln.
Franz von Moor hat von klein auf nie die gewünschte Liebe und Beachtung seines Vaters bekommen, bei dem er noch immer zuhause wohnt.
Sein älterer Bruder Karl, hingegen, wird von deren Vater bevorzugt, hat eine schöne Geliebte, einen Studienplatz in Leipzig, ist mit gutem Aussehen gesegnet und hat sogar das Anrecht auf das Erbe der Familie. Franz wird schon zu Beginn des Dramas als böser Charakter dargestellt, indem alles mit seiner Intrige gegen seinen Vater und Karl anfängt. Was davor jedoch passierte, bleibt dem Leser verborgen. All die Erfahrungen, die den so verbitterten Franz zu dem intriganten Bösewicht gemacht haben, den er repräsentiert, werden nicht erwähnt und der Leser stößt ab einem gewissen Punkt in die Geschichte, in dem sich Franz Metamorphose schon vollständig abgespielt hat.
Franz repräsentiert das Böse, das sich aufgrund von Mangel an Liebe und Selbstwertgefühl und aus Neid zum Bösen entwickelt hat. Kein Mensch ist von Geburt an böse. In welche Richtung sich ein Mensch entwickelt, hängt einzig und allein von seinen Erfahrungen ab, die er im Laufe seines Lebens macht.
Franz hat immer das Gefühl gehabt, minderwertig und unansehnlich, geradezu hässlich, zu sein.
Ob seine Familie ihn tatsächlich so behandelt hat, bleibt offen. Jedoch kommt er nicht mit der Tatsache klar, dass sein älterer Bruder all das Erbe bekommen soll und er sich lediglich mit einer kleinen Abfindung zufrieden zu geben hat. Karl führt das Leben, das sich Franz so sehnlich wünscht.
Doch was Franz nicht ahnt, ist, dass Karls Leben auch aus dem Ruder zu geraten droht, denn Karl ist schon lange nicht mehr mit seinem Studentendasein zufrieden. Durch Franz Intrige beeinflusst schmeißt er aus verletztem Idealismus sein Studium und wird von seinen Kommilitonen mit der Idee konfrontiert, eine Räuberbande zu gründen. Er stimmt dem zu und wird zu deren Hauptmann ernannt. Kurz darauf begehen sie als Räuberbande viele brutale Morde und andere Schandtaten.
Während die anderen Mitglieder der Bande, besonders Spiegelberg, ohne Gewissen und mit mangelnder Empathie ihren meist unschuldigen Opfern gegenüber handeln, beschränkt sich Karl darauf, nur die, in seinen Augen, bösen Menschen zu bestrafen. Auch, wenn er dadurch selber zum Bösewicht wird, handelt Karl jedoch moralischer und gewissenhafter, als die anderen Räuber. Es ist ebenfalls nennenswert, dass Karl nicht an Geld interessiert ist und seine Beute keineswegs für sich behält, sondern einen Großteil davon an Bedürftige und Arme weitergibt.
Die Problematik an der ganzen Sache ist jedoch, dass Karls Charakter ganz und gar nicht für die Rolle eines blutrünstigen, gewissenlosen, geldgierigen Räuberhauptmanns geschaffen ist.
Er befindet sich in einem inneren Dilemma, aus dem er keinen Ausweg sieht.
Einerseits wünscht er sich nichts sehnlicher, als wieder in seine geliebte Heimat und zu seiner Amalia zurück zu kehren, doch ist er, durch Franz Intrige, aus seinem Hause verbannt worden und dort nicht mehr gern gesehen. Andererseits kann er die Räuberbande nicht verlassen, da er ihnen seine ewige Treue geschworen hat und sein Wort halten muss.
Karl repräsentiert „das Böse wider Willen“.
Er wendet sich aus verletztem Idealismus zum Bösen. Tief in seinem Herzen wünscht er sich nichts sehnlicher, als die Liebe seines Vaters wieder zu gewinnen und „zurück nachhause“ kehren zu können. Die irreversible Entscheidung , eine Räuberbande zu gründen wird ihm im Suff von seinen Kommilitonen aufgeschwatzt und er stimmt, verletzt, wie er in diesem Moment ist, einfach zu, ohne sich wirklich damit auseinander gesetzt zu haben. Ab diesem Punkt kann er, ganz gleich, ob er will, nicht mehr umkehren, denn er ist durch seinen Schwur auf ewig an die Räuber gebunden.
Franz handelt bei all seinen Taten eher mit dem Verstand, agiert jedoch ziemlich herzlos, während Karl auf sein Herz hört und seinen Verstand in vielen Situationen einfach ausblendet. Beide Charaktere zusammen veranschaulichen den inneren Konflikt eines jeden Menschen, der nicht weiß, ob er auf sein Herz oder seinen Verstand hören soll, denn Herz und Verstand sind in vielen Situationen Gegenspieler.
In Schillers Drama „Die Räuber“ gibt es aber noch eine andere Darstellung des Bösen.
Der Charakter von Moritz Spiegelberg repräsentiert das Böse aus Mangel an Empathie und reinem Sadismus.
Spiegelberg hat sichtlich seinen Gefallen daran, Menschen zu quälen und blutrünstig zu Morden.
Dies führt allerdings relativ schnell zu seinem Tod, als er beschließt Karl aus dem Weg zu räumen.
Das Drama endet mit dem Tod der Hauptcharaktere Karl und Franz, ebenfalls wie mit dem Tod des Vaters, Amalia und allen relevanten Räubern aus der Bande. Allerdings gibt es hier einen deutlichen Unterschied in der Art und Weise, auf die, die zwei Brüder sterben.
Franz wählt den Freitod, als Karl und seine Räuberbande das Schloss umstellen. Hierbei handelt er jedoch nicht in der Absicht, durch seinen Tod noch eine letzte gute Tat zu vollbringen und mit sich und der Welt ins Reine zu kommen. Er wird von nächtlichen Fieber-Visionen gequält, die an seinem Gewissen nagen. Er hat Angst vor Gottes Strafe. Als ein Pastor ihm dann auch noch erzählt, dass die größte Sünde der Bruder- und Vatermord sei, kommt späte Reue in ihm auf und er versucht zu beten. Dieser Versuch misslingt jedoch. Als die Räuber das Schloss stürmen, sieht Franz keinen anderen Ausweg und stranguliert sich mit seiner goldenen Hutschnur. Dies tut er, weil er zum Einen Angst vor seiner bevorstehenden Strafe durch die Hand Karls hat und zum Anderen, weil alles, was er je in seinem Leben haben wollte immer Karl gehörte, so will er nicht auch noch sein eigenes Leben in Karls Hände legen. Ob Franz seine Taten bereut, ist fraglich. Klar jedoch ist, dass er seine Fehler einsieht und mit eben dieser Einsicht in den Tod geht. Er kann sein Gewissen vielleicht übertönen, indem er sich vor sich selbst rechtfertigte, aber er kann es nicht ausschalten, denn früher oder später holt es ihn ein und genau das geschieht auch.
Karl, der von dem Moment seiner Enterbung an Selbstjustiz betrieben hat, liefert sich daraufhin, nachdem er seine geliebte Amalia, auf deren Bitte hin, getötet hat, an die Justiz aus, indem er sein Kopfgeld einem armen Tagelöhner anbietet. Er hat eingesehen, dass der Weg, den er gegangen ist, nicht der Richtige war und bereut dies auch sichtlich. Karl repräsentiert somit das moralisch gute Böse. Amalias Tod führt ihm seine Fehler noch ein letztes und sehr intensives Mal vor Augen.
In Kleists Erzählung „Der Findling“ steht der Konflikt zwischen Adoptivsohn und Adoptiveltern im Mittelpunkt. Nicolo, der einst von Piachi und seiner Frau Elviere adoptiert wurde, wendet sich gegen die beiden, versucht seine Adoptivmutter zu verführen und verweist seinen Adoptivvater, nachdem dieser ihm sein Erbe vermacht hat, vom Grundstück. Auf dem ersten Blick kann diese Handlung als rein böswilliges Handeln interpretiert werden. Jedoch sollte man hier beachten, dass Nicolo in der Repräsentation des Bösen die Rolle der Person übernimmt, deren Charakter aufgrund eines fehlgeschlagenen Integrationsversuches negativ geworden ist.
Er wird in die Familie Piachis hinein adoptiert und hat sich dessen Idealen und Vorstellungen von der Redlichkeit zu beugen. Diese Werte entsprechen jedoch nicht unbedingt seinen Interessen bzw. seinem Charakter. Im Gegensatz zu Karl von Moor bekommt Nicolo die Liebe seines Vaters zu spüren, kommt jedoch mit dessen Vorstellungen und Werten nicht klar und wird diesen nicht gerecht. Noch dazu kommt, dass die ganze Familie nur zum Schein „heil“ ist und selbst Nicolo wird irgendwann klar, dass die, für Piachi heilige, Redlichkeitsphilosophie, nach der er erzogen wurde und die als unglaublich wichtig in dieser Familie gilt, von den restlichen Familienmitgliedern selbst nicht eingehalten wird. Dies kann nur verwirren, wenn man nach einem wichtigen Ideal erzogen wird, an das sich die Person, die einem sagt, dass dieses Ideal unbedingt einzuhalten ist, selbst jedoch nicht hält.
Ein wichtiger Aspekt ist hierbei, dass Nicolo vor seiner Adoption auf der Straße gelebt hat und nicht bekannt ist, was damals alles geschehen ist. Zu dieser Zeit als Straßenkind zu leben war alles andere als einfach. Wer weiß, mit welchen Mitteln er sich da durchgeschlagen hat. Demnach hat er dann garantiert auch andere Werte erfahren, die nicht unbedingt denen von Piachi entsprechen. Vermutlich ist Nicolo gar nicht klar, dass die Dinge, die er tut, schlecht sein sollen. Er versteht Piachis Perspektive nicht und sieht seine Taten teilweise auch selbst nicht als negative Handlungen an.
Auch sein stark ausgeprägter Sexualtrieb ist nicht bedingungslos ein Grund, um böse zu werden. Da Nicolo sich aber sehr zu seiner jungen Adoptivmutter hingezogen fühlt, übernimmt eben dieser Sexualtrieb die Oberhand über ihn. Noch dazu kommt, dass er sich ebenfalls von Elviere verraten fühlt, da er denkt, sie hätte ihn vor seiner ganzen Familie bloß gestellt, und auf Rache sinnt.
So nutzt er ihren Schwachpunkt aus und versucht sie zu verführen. Piachi, der plötzlich unerwartet erscheint, bekommt von der Sache Wind und holt die Peitsche. Daraufhin verweist ihn Nicolo, der sich darüber im Klaren ist, dass er am längeren Hebel sitzt, des Hauses. Elviere stirbt an den Folgen der versuchten Verführung. Dies gibt Piachi den Rest, da alles Geschehene absolut gegen die Redlichkeit verstößt und somit gegen all seine Idealen. Der Rausschmiss aus seinem eigenen Haus macht ihn so rasend vor Wut, dass er darauf hin Nicolo tötet. Er wird dafür zum Tode verurteilt, weigert sich jedoch Absolution zu empfangen, da er lieber in die Hölle möchte, um Nicolo dort erneut Leid zuzufügen.
Somit macht Piachi, im Laufe der Geschichte, eine starke Wandlung durch. Vom friedlichen, alten Herren, der an der Redlichkeit festhält, wird er zum Mörder und verstößt letztendlich gegen alle Aspekte eben dieser. Auch sein Charakter entwickelt sich zum Bösen. Ähnlich, wie bei Karl, wird sein Idealismus immer mehr verletzt. Zwar geschieht dies nicht auf einem Schlag, aber im Laufe der Geschichte wird er durch das Verhalten von Nicolo, das seinen Idealen nicht entspricht, immer mehr gekränkt. Letztendlich ist der Rausschmiss aus seinem eigenen Haus der Auslöser, der ihm klar macht, dass seine Idee von der Redlichkeit nur eine Illusion ist und niemand danach handelt. Dies bei seinem eigenen Adoptivsohn festzustellen, den er anstelle seines verstorbenen Sohnes aufgenommen und erzogen hat und dem er sein ganzes Erbe vermacht hat, verletzt ihn ungemein.
Seine Tat basiert daher auf Enttäuschung und dem plötzlichen Erwachen aus einer Illusion, die er sein Leben lang für real gehalten und danach gelebt hat. Allerdings verspürt Piachi nach seiner Tat keine Reue, denn er verzichtet auf sein Recht auf Absolution und ist verbissen darauf, Nicolo in der Hölle wieder zu treffen, anstatt sich zu wünschen, zu Elviere in den Himmel zu kommen.
Was fest steht, ist, dass kein Mensch mit einem bösen Charakter geboren wird. Der Charakter entwickelt sich im Laufe des Lebens mit all den Erfahrungen, die der Mensch macht. Es mag sein, dass alle Charakterzüge bei jedem Individuum vorhanden sind, allerdings ist es eine Frage der Umstände, welche Charakterzüge davon dominieren. Sowohl Piachi, als auch Nicolo, als auch Franz und Karl haben alle einen Grund bzw. Auslöser für ihre Taten. Sie haben alle eine Erfahrung gemacht, die ihren Charakter in diese Richtung entwickelt hat. Immer war diese Erfahrung negativ und verletzend. Ganz gleich, wie unterschiedlich die Umstände sind, haben alle vier Charaktere dies gemeinsam.