„Russland in der dritten Amtszeit unter Wladimir Putin - Nach W. Merkel noch Defekte Demokratie oder schon Autokratie?“

1. Einleitung

Das politikwissenschaftliche Selbstverständnis ist stark mit der Analyse von Regierungssystemen verbunden. Gerade in der westlich geprägten Welt unterteilt man gerne in demokratische und nicht-demokratische Staaten. Nun gibt das Land Russland mit seinen rund 144 Millionen Einwohnern auf einer beeindruckenden Fläche von über 17 Millionen Quadratkilometern einige Rätsel für die Politikwissenschaft auf.

Erstellt von Yvo0407 vor 9 Jahren
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Aktuell wird das Land sowohl im außen- als auch im innenpolitischen Kontext verfolgt.

Außenpolitisch erregt Russlands Präsident Wladimir Putin, der nun nach dem Wechselspiel mit Dimitri Medwedjew zum dritten Mal an der obersten Spitze des Flächenlandes steht, Aufmerksamkeit durch seine Manöver auf der Krim und in der Ostukraine. Innenpolitische Nachrichten, die es in die westlichen Medien schaffen, beschäftigen sich mit Repressionen des politischen Systems wie beispielsweise der Inhaftierung der bekannten Rockband „Pussy Riot“ oder der Entlassung des jahrelang inhaftierten Ex-Konzerninhabers Michail Chodorkowski. Russland ist anders. Es unterscheidet sich in der öffentlichen Wahrnehmung von den Staaten der Europäischen Union, die in unmittelbarer Nähe liegen. Es unterscheidet sich aber auch von seinen asiatischen Nachbarstaaten auf der anderen Seite der Weltkarte. Niemand würde Russland als kommunistische Dynastie oder als Militärdiktatur kategorisieren. Schließlich hat Russland eine selbsternannte demokratische Verfassung, die Macht soll vom Volk ausgehen, es finden freie Wahlen statt, die laut OSZE-Beobachtern bisher auch nicht gefälscht wurden. Es gibt ein Parlament genauso wie einen Föderationsrat, der die Interessen der weitflächig verteilten Föderationselemente vertreten soll. Aber wer einen genaueren Blick wagt, der sieht auch einen straffen Regierungsstil Putins, Selbstinszenierung, Medienmonopole, Menschenrechtsverletzungen, korrupte Verwaltungen und einflussreiche Oligarchen. Fraglich ist daher, inwiefern man im Falle Russlands noch von einer Demokratie sprechen kann.

Im Vordergrund dieser Hausarbeit soll daher stehen, das politische System Russlands in der dritten Amtszeit Wladimir Putins einzuordnen in die Systemtheorie nach Wolfgang Merkel. Der deutsche Politikwissenschaftler unterscheidet zwar grundsätzlich zwischen Demokratie und Autokratie, nimmt aber auch den bereits seit Längerem diskutierten Begriff der Defekten Demokratie als Zwischensystem auf. Als Unterscheidungskriterien zwischen Autokratie und Defekter Demokratie orientiert er sich dabei an verschiedenen Merkmalen politischer Systeme.

Das Konzept der Defekten Demokratie versucht Grauzonen zwischen Demokratie und Autokratie aufzuzeigen. Fraglich ist daher, ob sich diese am Fallbeispiel Russlands illustrieren lassen oder ob Russland als Autokratie einzuordnen ist. Zunächst werden daher die theoretischen Annahmen Merkels zur Demokratie und Autokratie, sowie zur Defekten Demokratie aufgezeigt. Danach werden die von Merkel entwickelten Abgrenzungskriterien, die sich allesamt auf den Begriff der Herrschaft beziehen, aufgezeigt. Um diese anwenden zu können, wird sich die Hausarbeit im Folgenden mit dem juristischen Aufbau des russischen Regierungssystems beschäftigen, nicht ohne im zweiten Schritt einen Blick auf die faktische Machtverteilung zu werfen. Die Einordnung nach Merkel kann dann im letzten Schritt anhand der sechs Klassifikationskriterien genauer untersucht werden. Am Ende der Hausarbeit wird ein Fazit stehen, dass die anfänglich aufgeworfene Frage nach der Einordnung Russlands in Defekte Demokratie oder Autokratie beantworten soll.

2. Demokratie

Folgt man der begrifflichen Definition des Wortes, bedeutet „Demokratie“ im ursprünglichen Sinne „Herrschaft des Volkes“, von „demos“ (Volk) und „kratein“ (Herrschaft).[1] Aber noch heute herrschen in der Politikwissenschaft verschiedene Definitionen und Begriffserklärungen dieses Regimetyps vor. Merkel unterscheidet Demokratiemodelle hinsichtlich der Ausführlichkeit ihrer Definitionsmerkmale.[2] Das minimalistische Modell definiert als Grundvoraussetzung und Kern der Demokratie freie, gleiche und geheime Wahlen. Berühmte Vertreter dieses Modells sind beispielsweise Joseph Schumpeter[3] oder Robert Dahl[4]. Sie gehen davon aus, dass zwischen Regierten und Regierenden das Modell des politischen Marktes besteht. Politische Ziele werden bei Wahlen angeboten und entsprechend nachgefragt. Der Kandidat oder die Kandidaten mit dem besten Wahlergebnis werden zu Regierenden. Somit sind Wahlen das zentrale Wesensmerkmal des minimalistischen Modells. Andere Elemente werden (bewusst) ausgeklammert.

Vertreter des mittleren Demokratiemodells, wie beispielsweise Jürgen Habermas, halten diese Definition für nicht zureichen. Über die Wesensmerkmale der Wahlen hinausgehend, hält auch Habermas auch die „Performance“ der Regierenden für wichtig. Als Merkmale hierfür hält das mittlere Modell Rechtsstaatlichkeit, also die Garantie von Menschen-, Grund- und Bürgerrechten sowie das Vorhandensein von Kontrollinstanzen der Staatsgewalten, und über Wahlen hinausgehende Partizipationsmöglichkeiten, wie öffentlichen Diskurs oder Referenden, für essentiell.[5]

Vertretern des maximalistischen Demokratiemodells kommt es darüber hinausgehend auch auf die Outcome-Dimension von Demokratien an. Politikwissenschaftler wie Thomas Meyer beschäftigen sich nicht nur mit dem Herrschaftszugang und der Herrschaftsausübung, sondern vor allem auch mit den Ergebnissen der jeweiligen Regierungen. Aspekte wie wohlfahrtsstaatliche Weiterentwicklung oder Güterverteilung sollen neben den rein formalen Merkmalen ebenso zur Beurteilung von Demokratien herangezogen werden können.[6] Kritisch zu hinterfragen ist bei diesem Modell jedoch, ob diese Merkmale tatsächlich demokratietypisch sind. Auch autokratisch regierte Länder könnten theoretisch wohlfahrtsstaatliche Entwicklungen aufzeigen, unabhängig von der jeweiligen Herrschaftsausübung.

Auch Wolfgang Merkel stimmt dieser Beurteilung zu und vermeidet die Verwendung dieser Merkmale in einer formalen Definition. Dennoch „ist die reale Entwicklung der Demokratien, ihre Stabilität und Qualität nicht ohne diese zentrale Randbedingung zu verstehen.“[7] Gemeinsam mit Hans-Jürgen Puhle entwickelte Merkel daher die Modelle der „embedded democracy“ und „defective democracy“.

2.1 Demokratie nach Wolfgang Merkel

Angelehnt wird das Modell von Puhle und Merkel an das „electoral democracy“-Modell des nordamerikanischen Projektes „Freedom House“. Auf deren Internetseite werden verfügbare statistische Daten zu allen Ländern gesammelt und aufgeführt. Seit 1973 erstellt „Freedom House“ einen jährlichen Bericht, der den Grad der Demokratie und Freiheit verschiedener Länder bemisst und nach diesem in einem Ranking einsortiert. Die Bewertungen der verschiedenen Länder werden dabei auf einer Skala von 1 (frei und demokratisch) und 7 (unfrei und undemokratisch) angegeben.[8] Für Merkel und Puhle kommt dieses Modell jedoch nicht in Frage. Sie sprechen von einer „theoretisch wie normativen Anspruchslosigkeit“, das gar noch unter der konzeptionellen Ausstattung des minimalistischen Modells, z.B. nach Dahl, liegt. Neben der Bedingung freier Wahlen, müssten auch Teilregime des politischen Systems erfasst werden, die erst garantieren, dass diese Wahlen für die demokratische Machtausübung bedeutsam sind und Verantwortlichkeiten der Regierenden und die Gültigkeit von Normen sicherstellen.[9]

Neben Wahlen (A) sind demnach nach Puhle und Merkel folgende Teilregime essentiell: Politische Freiheiten und Partizipationsrechte (B), Bürgerliche Rechte (C), die institutionelle Sicherung der Gewaltenteilung (D) und Effektive Regierungsgewalt (E). Eingebettet sind diese Teilregime in den äußeren Rahmen aus sozio-ökonomischen Kontext, Zivilgesellschaft und internationaler Integration.

Puhle und Merkel ziehen als Ergebnis vor allem Relationsrückschlüsse: Je dichter und widerstandsfähiger die äußeren Einbettungsrahmen der Demokratie sind, umso unangreifbarer sind auch die internen Teilregime gegenüber externer Bedrohungen. Und: Je dichter die Interdependenz zwischen den Teilregimen von A bis E, je höher die Kooperation zwischen den jeweiligen Akteuren dieser Regime und je höher die Akzeptanz, desto demokratischer ist das Gesamtregime. Auch umgekehrt soll diese Schlussfolgerung laut Puhle und Merkel gelten. Je schwächer die äußere Einbettung, desto eher hat man es mit einer defekten Demokratie zu tun.

2.2 Defekte Demokratie nach Merkel

So gelangt Merkel zur Erklärung des Modells der defekten Demokratie. Defekt ist ein demokratisches System demnach, wenn mindestens eines der Teilregime so stark beschädigt wird, dass es die Gesamtlogik des Systems verändert und man nicht mehr von einer „intakten“ Demokratie sprechen kann. Defekte Demokratien definiert Merkel als: „solche demokratischen Systeme, in denen die wechselseitige Einbettung der Teilregime zerbrochen und die Gesamtlogik der rechtsstaatlichen Demokratie gestört sind.“[10] In defekten Demokratien gibt es demnach als Grundvoraussetzung zwar Wahlen, durch die Störung der Teilregime kann aber nicht von einer funktionierenden Demokratie gesprochen werden. Diese Störungen können nach Merkel unterschiedliche Auswirkungen haben und so ergeben sich vier Typen defekter Demokratien.

2.2.1 Exklusive Demokratie

Exklusive Demokratien zeichnen sich durch den Ausschluss ganzer Gruppen vom aktiven und passiven Wahlrecht aus. Die Logik fairer Wahlen bleibt zwar erhalten und diese finden statt, jedoch zeigt der Ausschluss von Ethnien oder Glaubensgruppen erste autoritäre Züge auf. Das beschädigte Teilregime ist in diesem Fall das der Partizipationsrechte (B).

2.2.2 Enklavendemokratie

In einer Enklavendemokratie liegt die Macht nicht alleine bei den gewählten Repräsentanten, sondern auch bei machtvollen Vetospielern, wie beispielsweise dem Milität, einflussreichen Großunternehmern oder Guerillaeinheiten. Durch die Position des potentiellen Vetospielers entziehen sie den Regierenden Macht und dem ganzen System Legitimation. Bei der Enklavendemokratie ist das Teilregime der effektiven Regierungsgewalt (E) beschädigt.

2.2.3 Illiberale Demokratie

In dem Typus der illiberalen Demokratie spielt die fehlende Kontrolle durch die Judikative eine zentrale Rolle. Damit reduziert sich laut Merkel die Bindung von Normen. Den eigenen Rechten wird kein Vertrauen mehr geschenkt, weil sie möglicherweise aufgrund fehlender Kontrolle nicht (mehr) durch die Regierenden eingehalten werden. Die illiberale Typ der defekten Demokratie tritt weltweit am häufigsten auf.[11] In diesem Fall ist das Teilregime der bürgerlichen Rechte (C) gestört.

2.2.4 Delegative Demokratie

Der Typus der delegativen Demokratie umfasst die fehlende Kontrolle der Regierenden noch stärker. Hier kommt nicht nur die fehlende Kontrolle durch die Judikative, sondern auch durch die Legislative zum Tragen. Die Gewaltenteilung ist komplett ausgehebelt. Regierungen setzen sich dabei über Parlamente und Gerichte hinweg und profitieren meist von einem charismatischen Anführer. Das Volk muss dabei diese Missstände nicht prinzipiell kritisieren. Oftmals delegiert das Volk in Wahlen die Macht auch auf diesen einen Führer oder eine bestimmte Partei. Hier betrifft die Störung das Teilregime der horizontalen Kontrollfunktion (D).

2.2.5 Ursachen

Ursachen für das Entstehen defekter Demokratien sind dabei vielfältig. Neben gescheiterten Transformationen, von einem anderen politischen System hin zur Demokratie, kommen auch bestehende Ungleichgewichte in der nationalen Machtverteilung, starke sozio-ökonomische Ungleichgewichte, ökonomische oder politische Krisen, stark ausgeprägte informelle Machtzirkel oder eine fehlende Einbindung in regionale Bündnisse umliegender Demokratien in Frage. Häufig fehlen Defekten Demokratien zum Übergang in rechtsstaatliche Demokratien sozio-ökonomische Voraussetzungen. Starke ethnische oder religiöse Heterogenität kann ebenfalls ein Hinderungsgrund sein.

Die Defekten Demokratien werden laut Merkel also vor allem dazu benötigt, eine schwierige Grauzone zwischen Demokratie auf der einen und Autokratie auf der anderen Seite zu definieren. Denn falls ein Teilregime der eingebetteten Demokratie gestört ist, bedeutet das nicht bereits, dass es sich um die „Schreckensherrschaft“ einer Autokratie handelt.

3. Autokratie

Ähnlich des Demokratie-Begriffs gibt es auch für Autokratien keine einheitliche Definition. Die historische Bedeutung des Begriffs stammt zusammengesetzt aus „autos“ (selbst) und ebenfalls „kratein“ (Herrschaft).[12] Es geht also um die vom Wähler losgelöste Machtbasis. Der alleinige Machtträger legitimiert sich selbst. Viele Politikwissenschaftler sehen die Autokratie daher als genaues Gegenteil von Demokratie an und folgen der dichotomen Typenlehre. Juan Linz führte darüber hinausgehend für den Begriff der Autokratie die Unterteilung in autoritäre und totalitäre Regime ein.[13]

Eine Definition auf die Merkel mit dem Verweis auf die „überzeugendste allgemeine Definition“[14] zurückgreift, ist die des Politikwissenschaftlers Hans Kelsen. Autokratien sind für ihn Systeme, in denen gegensätzlich zu Demokratien Normautoren und Normadressaten voneinander abweichen.[15] Anders als in Demokratien vertreten Regierende vertreten nicht den mehrheitlichen Willen der Regierten.

Als grundsätzliche Definition genügt Merkel die von Kelsen aufgestellte Formel, nicht ohne aber darauf hinzuweisen, dass neben den Herrschaftsträgern auch noch weitere Merkmale von Autokratien beachtet werden müssen. Viele dieser systematischen Regimeuntersuchungen führen zu Unterscheidungskriterien zwischen totalitären und autoritären System. Vielmehr ist es für diese Hausarbeit allerdings entscheidend, die Abgrenzungskriterien zwischen defekter Demokratie und Autokratie näher zu beleuchten.

4. Abgrenzungskriterien zwischen Defekter Demokratie und Autokratie

Die Abgrenzungskriterien, die in dieser Hausarbeit für die Grauzone zwischen Defekter Demokratie und Autokratie verwendet werden, lehnen sich an die von Merkel definierten Teilregime der eingebetteten Demokratie an, die er im Rahmen seiner Untersuchungen zur Unterscheidung von autoritären und totalitären Regimen wieder aufgreift. So bettet Merkel den Typus der Defekten Demokratie in die sechs Herrschaftskriterien ein, die zur Abgrenzung dienen.

Zum einen geht es um die Herrschaftslegitimation, die in Demokratien, auch in defekten, auf der Volkssouveränität statt auf Weltanschauungen oder Mentalitäten basiert. Bei Defekten Demokratien ist der Herrschaftszugang im Gegensatz zu Autokratien offen statt geschlossen. Das heißt es gibt ein universelles Wahlrecht, statt eingeschränkt pluralistische, unfreie oder unfaire Wahlen. Der Herrschaftsanspruch in Defekten Demokratien ist begrenzt, weil er durch rechtsstaatliche Vorgaben eingeschränkt wird. Autokratien verfolgen einen unbegrenzten Herrschaftsanspruch. Das Herrschaftsmonopol kann in defekten Demokratien zwar durch mächtige Vetospieler eingeschränkt sein, untersteht aber dennoch dem Grundsatz der Legitimation durch Wahlen und eine demokratische Verfassung. Autokratische Herrscher werden nicht oder nur teilweise durch Wahlen legitimiert. Die Herrschaftsstruktur ist in Defekten Demokratien pluralistisch. Autokratische Systeme unterliegen hier meist semipluralistischen bzw. gar monistischen Strukturen. In Defekten Demokratien kommen Merkels Untersuchungen der Herrschaftsweise ins Spiel: während Autokratien willkürlich repressiv herrschen, ist die Rechtsstaatlichkeit bei Defekten Demokratien nur gestört bzw. beschädigt. Diese Beschädigungen können wiederum an den einzelnen Teilregimen abgelesen werden.

A: Wahlregime. Finden im jeweiligen Land Wahlen von Parlament und Regierung nach rechtsstaatlichen Grundsätzen statt?

B: Politische Partizipationsrechte. Sind bei diesen Wahlen bestimmte Bevölkerungsgruppen ausgeschlossen? Finden diese Wahlen allgemein, frei, gleich und geheim statt?

C: Bürgerliche Rechte. Werden bürgerliche Rechte gesetzlich geschützt? Sind Bürger- oder gar Menschenrechte ausgesetzt? Gibt es Verletzungen der Grundrechte wie Presse- oder Meinungsfreiheit?

D: Horizontale Verantwortlichkeit. Ist die Kontrolle der Exekutive durch die Legislative und die Judikative gewährleistet? Umgeht die Exekutive die Legislative sogar? Kann die Judikative ungestört von der Exekutive ihren Aufgaben nachgehen?

E: Effektive Regierungsgewalt. Gibt es nicht-staatliche bzw. nicht demokratisch gewählte Vetospieler neben den politischen Institutionen? Ist die Macht dieser Vetospieler so stark, dass sie das rechtsstaatliche Gefüge aushebeln?

Es erscheint somit klar, dass es keine genaue Messskala gibt, auf der man an einem Zahlwert genau ablesen kann, ob es sich um eine defekte Demokratie oder um eine Autokratie handelt. Vielmehr geht es darum, herauszufinden, wie stark die Beeinträchtigungen der einzelnen Teilregime ist und ob diese ausreichen, nicht mehr von einem rechtsstaatlich-demokratischen Fundament sprechen zu können. Es gibt also keine schwarz-weißen Abgrenzungskriterien, sondern vielmehr Indikatoren, die in eine bestimmte Richtung weisen.

5. Fallbeispiel Russland

5.1 Das Regierungssystem de jure

Das heutige politische System Russlands basiert auf einer Verfassung, die 1993 bei einer Beteiligung von 55 % stimmberechtigter Russen von nur 57 % in einer Volksabstimmung angenommen wurde. Zuvor hatte der Staatsaufbau nach französischem Vorbild den Gefallen von Präsident Jelzin gefunden.[16]

Die Verfassung stellt ein in sich geschlossenes Dokument dar, welches klar nach demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien verbindlich ist. Von früheren kommunistischen Herrschaftsideologien rückt die Verfassung deutlich ab, erkennt abweichend pluralistische und föderalistische Grundsätze prinzipiell an und verbietet eine staatsmonopolistische Ideologie.

Der russische Präsident wird direkt vom Volk auf vier Jahre gewählt und ist mit reichlichen Kompetenzen ausgestattet. Er hat neben der Richtlinienkompetenz auch den Oberbefehl über das Militär. Neben dem Präsidenten und der von ihm vorgeschlagenen Regierung als Exekutive sieht die russische Verfassung klar nach dem Prinzip der Gewaltenteilung außerdem die Wahl eines Parlamentes, der Duma, vor. Außerdem gibt es eine zweite Parlamentskammer, den aus regionalen Vertretern bestehenden Föderationsrat. Dieser ernennt die Richter des oberstes Verfassungsgerichtes.

Die 450-köpfige Duma wählt den vom Präsidenten vorgeschlagenen Ministerpräsident, der dem Parlament Vorschläge für die Besetzung seiner Regierungsbank unterbreiten kann.Laut Verfassung steht dem russischen Präsidenten diese Regierung lediglich als Vollzugsorgan zur Seite. Die Richtlinien der Innen- und Außenpolitik kann der Präsident laut Art. 80 der russischen Verfassung alleine bestimmen (vgl. auch Art. 110, Abs. 1).

Lehnt die Duma den vom Präsidenten vorgeschlagenen Kandidaten für den Ministerpräsidentenposten ab, hat der Präsident weitere zwei Mal die Möglichkeit, nochmals einen Kandidaten vorzuschlagen, der auch der gleiche sein kann. Stimmt die Duma auch beim dritten Mal nicht zu, darf der Präsident seinen Kandidaten eigenständig ernennen, muss gleichzeitig aber die Duma auflösen (Art. 111, Abs. 4). Das Gleiche gilt für den Fall, wenn die Duma der Regierung das Vertrauen entzieht, der Präsident sich aber weigert, die Regierung zu entlassen. Auch dies ist eine russische Besonderheit und verdeutlich die exponierte verfassungsrechtliche Stellung des Präsidenten. Die Durchsetzung des präsidentiellen Willens schwebt bei den Duma-Abgeordneten also immer unter dem Damoklesschwert des eigenen Mandatverlusts. Der Präsident hat das Recht der Gesetzesinitiative in der Duma. Gegen eigenständig von der Duma beschlossene Gesetze hat er ein Vetorecht. Dies kann nur von einer gleichzeitigen Zwei-Drittel-Mehrheit beider Kammern, also Duma und Föderationsrat, aufgehoben werden.

Der Föderationsrat selbst besteht aus 166 Mitgliedern aus den Föderationssubjekten Russlands, den föderalen Untergliederungen. Aus den 83 Föderationssubjekten sitzt immer jeweils ein Mitglied der jeweiligen Exekutive und eines der jeweiligen Legislative im Rat. Die Besetzung dieser Abgeordnetenämter wird in Russland häufig diskutiert und wurde in den vergangenen Jahren durch Verfassungsänderungen häufig auf wechselnde Entscheidungsträger übertragen. Derzeitig liegt die Ernennung in den Händen der Gouverneure der jeweiligen Gliedstaaten. Unter Präsident Jelzin wurden die Gouverneure noch vom Volk direkt gewählt. Seit dem Beginn der ersten Amtszeit Putins schweigt die Verfassung zu diesem Punkt. Auf Grundlage eines Vorschlages der Präsidialverwaltung, einer mächtigen Verwaltung, die nur dem Präsidenten direkt unterstellt ist und in der die höchsten Staatsbeamten eingesetzt sind, ernennt seitdem der Präsident die Gouverneure der jeweiligen Gliedstaaten. Dieser wiederum ernennt dann die Mitglieder des Föderationsrates.[17] Die Gewaltenteilung ist an dieser Stelle aufgeweicht.

Ein Vetospieler des Präsidenten könnte ein starkes Parlament sein. Verfassungsrechtliche Kompetenzen dazu hätte die Duma. Doch im Falle einer starken, den Präsidenten unterstützenden Partei, sichert sie die Machtbasis des Präsidenten nur ab. Ein „Gridlock“ wäre nur denkbar, wenn Präsident und Parlament unterschiedlichen Vorstellungen folgten. Dies ist jedoch derzeit nicht der Fall.

In der dritten Amtszeit Putins sind in der Duma vier Parteien vertreten. „Einiges Russland“ zählt als die „Putin-Partei“. Sie errang 238 der 450 Mandate und hält somit die präsidentiell gewünschte Mehrheit. Allerdings muss festgehalten werden, dass „Einiges Russland“ zwischen 2007 und 2011 sogar 315 der 450 Mandate innehatte. Dies ändert zwar nichts an der realen Entscheidungsfindung im Parlament, sollte aber im Hinterkopf behalten werden, wenn wieder öffentlich von „zunehmenden Anti-Demokratisierungstendenzen“[18] zu lesen ist.

Hinsichtlich der Duma- und der Präsidentschaftswahlen wird Russland ebenso regelmäßig Wahlbetrug bzw. Wahlfälschung vorgeworfen. Internationale Beobachter der OSZE konnten jedoch keine direkten Wahlverfälschungen verstellen, die das gesamtrussische Ergebnis tatsächlich in größerem Ausmaße beeinflusst hätte.[19]

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass Russland mit seiner Verfassung auf einem demokratischen Fundament steht und wichtige rechtsstaatliche Prinzipien rein verfassungsrechtlich auch gedeckt werden. Selbstverständlich muss aber auch ein Augenmerk auf die faktische Machtbasis des politischen Systems gerichtet werden.

5.2 Das Regierungssystem de facto

Genau dort sind die Gründe dafür zu finden, warum Russland in der öffentlichen Wahrnehmung längst keine Demokratie mehr ist. In der Regierungspraxis verfehlt das Land längst die eigentlichen Maßstäbe einer Demokratie. Die fast vollständige Kontrolle der Medien, die Quasi-Staatspartei, die Diskriminierung von Oppositionsparteien, die Unterdrückung ungeliebter Demonstranten oder der Umgang mit Freiheitsrechten lassen sich schlecht mit den Wesensmerkmalen einer Demokratie vereinbaren. Dennoch möchte Russland selbst dieses „Gütesiegel“ öffentlich nicht ablegen. Gerade die oligarchische Oberschicht Russlands profitiert von dem Etikett, das für sie das Zugehörigkeitsgefühl zur Welt Europas und Nordamerikas garantiert.[20]

Öffentlich jedoch machen längst Gewalt gegen Journalisten, Gefängnisstrafen ohne ordentliches Gerichtsverfahren gegen Musiker, wie die Rockband „Pussy Riot“, oder die Enteignung beispielsweise von Jukos-Gründer Michail Chodorkowski die Runde. Einsätze bei Demonstrationen zeichnen sich durch eine hohe Polizeipräsenz und staatliche Gewaltbereitschaft aus. Nationale Medien werden von staatlichen Aufsichtsbehörden beobachtet und falls nötig zur Selbstzensur bewegt.[21]

Die faktische Machtbasis liegt bei Präsident Putin. Die Macht des Parlaments ist durch die solide Mehrheit der Präsidentenpartei ausgehebelt. Interessanterweise widerspricht dies aber nicht einmal dem Willen des Volkes. Bei einer Befragung des Moskauer Lewada-Instituts gab knapp die Hälfte der Befragten an, sie hielten eine politische Opposition für überflüssig. 31 % davon gaben an, die Gesellschaft sollte politischen Streit prinzipiell vermeiden. 27 % waren der Überzeugung, nur eine starke Hand könne Russland führen.[22] Der Übergang von autokratischer Sowjet-Union zu demokratischem Rechtsstaat ist demnach nicht nur politisch nicht durchgesetzt. Auch in der eigenen Bevölkerung zeigen sich mangelndes Verständnis von Demokratie und deren Unterstützung.[23]

5.3 Einordnung des Fallbeispiels nach Merkel

5.3.1 Herrschaftslegitimation

Bei der Herrschaftslegitimation gilt in Defekten Demokratien laut Merkel nach wie vor das Prinzip der Volkssouveränität. Verfassungsrechtlich ist diese in Russland durch die Wahlen des Präsidenten und der Duma gedeckt. Wie oben bereits dargestellt, konnten Wahlfälschungen in der Vergangenheit nicht nachgewiesen werden. Von der verfassungsrechtlich garantierten Volkssouveränität ist hier demnach auszugehen, wenn sie auch an der ein oder anderen Stellen eingeschränkt wird, wie beispielsweise durch die Verfassungsänderungen bei der Wahl der Gouverneure oder bei der Beeinflussung durch staatlich gelenkte Medienmonopole. Diese Einschränkungen hebeln das Prinzip der Volkssouveränität aber nicht vollständig aus. Hier wäre also das Merkmal für eine Defekte Demokratie erfüllt.

5.3.2 Herrschaftszugang

Der Herrschaftszugang soll laut Merkel bei Defekten Demokratien nach wie vor offen sein, während hingegen bei Autokratien der Zugang begrenzt wird. Verfassungsrechtlich wird den russischen Bürgern sowohl das aktive, wie auch das für den Herrschaftszugang wichtige passive Wahlrecht zugesichert. Prinzipiell hat jeder die Chance, in höhere Regierungskreise aufzusteigen. Problematisch erscheint jedoch der hohe Grad an Korruption bei der Vergabe öffentlicher und politischer Ämter. Inwieweit Geld den Herrschaftszugang beschränkt, ist nicht genau klar. Zu bedenken ist, dass dieser Fakt den Herrschaftszugang zwar vorfiltert, von der Regierung aber nicht bewusst restriktiv ausgestaltet wird. Der Herrschaftszugang kann also durchaus noch als offen bezeichnet werden.

5.3.3 Herrschaftsanspruch

Beim Herrschaftsanspruch kann in Defekten Demokratien noch von einer verfassungsrechtlichen Begrenzung gesprochen werden. In Autokratien ist der Anspruch umfangreicher, rechtliche Vorgaben werden missachtet. Dennoch werden in Defekten Demokratien auch rechtsstaatliche Grenzen überschritten, ohne dass man in diesem Maße bereits von einem umfangreichen Herrschaftsanspruch sprechen kann.

Gerade durch die auch öffentlich bekannt gewordenen harten Polizeieinsätze gegen Demonstranten beispielsweise, die rechtlich lange nicht mehr gedeckt waren, ist die russische Polizei sensibler geworden. Bei Demonstrationen ist zwar stets rasch ausreichend Kontrollpersonal zur Stelle, aber mittlerweile wird häufiger abgewartet, als direkt gewaltsam einzuschreiten.[24] Vor zu schnellem Einschreiten schützen auch neu geschaffene Kontrollinstanzen der Regierung. So wurden seit 2006 stetig neue Gesetze zur Kontrolle von Medien, aber auch Privatbürger erlassen. Erst in der dritten Amtszeit Putins wurde beschlossen, Vereinsgründungen einzuschränken und rechtliche Voraussetzungen für die Bildung von NGOs restriktiver zu handhaben. Im Auge hatte die russische Regierung damit vor allem Organisationen, die Demokratieförderung zum Ziel hatten und durch ausländische Fördermittel finanziert wurden. Direkt nach der Wahl Putins 2012 beschloss die Duma eine Registrierungspflicht jeglicher Vereinigungen, die durch ausländische Finanzmittel unterstützt werden.[25]

Der Herrschaftsanspruch reicht damit zwar weit über die in anderen Demokratien gewöhnlichen Methoden hinaus, allerdings sind jegliche Änderungen stets rechtlich und damit auch rechtsstaatlich abgesichert. Durch die Konzentration, vor allem die Rechte von Ausländern bzw. ausländischen Finanziers einzuschränken, wird zudem offiziell kein Verfassungsrecht verletzt, weil es sich nicht um eine Einschränkung der „Bürgerrechte“ handelt. Zudem bleibt festzuhalten, dass der Präsident und die Regierung dafür sorgen, dass ihre Vorgehensweise stets eine parlamentarische Absegnung erhält und damit kein Gesetzesbruch durch die Exekutive begangen wird.

5.3.4 Herrschaftsmonopol

In Demokratien wird das Herrschaftsmonopol durch Wahlen legitimiert. Jegliche staatliche und mit Macht ausgestatteten Institutionen werden direkt oder indirekt vom Volk gewählt. Je stärker nicht-staatliche Vetomächte dieses Monopol aushöhlen, desto eher kann laut Merkel von einer Autokratie gesprochen werden. Russlands Verfassung garantiert zwar das Herrschaftsmonopol der gewählten Volksvertreter, doch in fast keinem anderen so hoch entwickelten Land der Welt, gibt es eine derart einflussreiche Riege an Oligarchen. 35 % des landesweiten Vermögens des Landes liegen in der Hand von 110 Russen. Das Wort der großen Öl- oder Industriemogule hat Gewicht, vor allem Abseits des Moskauer Kremls in den Föderationssubjekten. Genau dort sind sie die heimlichen Machthaber.[26] Das Herrschaftsmonopol wird somit zwar von mächtigen Vetospielern eingeschränkt, aber nicht beseitigt. Von einer Defekten Demokratie kann dennoch weiterhin gesprochen werden.

5.3.5 Herrschaftsstruktur

Die Voraussetzung einer pluralistischen Herrschaftsstruktur kann hier kurz bejaht werden. Im Parlament sind mehrere Parteien vertreten, die jedoch politisch unbedeutend sind. Dies liegt jedoch nicht an einer vorgeschriebenen Ideologie oder der Existenz einer Staatspartei, sondern an der Wählerpräferenz (siehe 5.3.1).

5.3.6 Herrschaftsweise

Für Merkel liegt eine Defekte Demokratie vor, wenn die Rechtsstaatlichkeit lediglich eingeschränkt wird. Handelt eine Regierung willkürlich repressiv, so handelt es sich um eine Autokratie. In der deutschen Öffentlichkeit und vor allem den deutschen Medien - insbesondere seit der dritten Amtszeit Putins – wird immer wieder der Vorwurf fehlender Rechtsstaatlichkeit erhoben.[27] Als Beispiele werden Verhaftungen, Verurteilungen oder willkürlich erscheinende staatliche Handlungen angeführt. Die Opfer sind häufig Journalisten, sogenannte Whistleblower, berühmte Musiker – all jene, die – so scheint es – der russischen Führungsriege aus Politik und Wirtschaft gefährlich werden könnte.[28] Doch diese Vorgehen sind meist rechtsstaatlich, also rein juristisch, abgesichert. Richter berufen sich in Urteilen genauso auf geltende Gesetze wie Polizeibehörden. Das gesamte russische System beruht darauf, dass der derzeitige russische Gesetzgeber flexibel und schnell reagieren kann. Wird ein neues Gesetz aufgrund aktueller Entwicklungen benötigt, kann es erlassen werden. Dies führt zu legitimierten Handlungen der Exekutive, die von außen betrachtet „willkürlich“ oder „nicht-rechtsstaatlich“ wirken. In Wirklichkeit aber besteht eine juristische Absicherung. Fraglich ist, inwieweit sich diese dann mit entsprechenden Rechtskodexen wie Internationalen Menschenrechten richten. Diese Kontrolle findet jedoch in Russland nicht statt, da das höchste Gericht ein von politischer Seite besetztes Gremium ist, das bei Bedarf neu besetzt werden kann.

Es fehlt dementsprechend nicht an fehlender Rechtsstaatlichkeit im Sinne der Rechtstreue exekutiver Organe, sondern generell an fehlender Kontrolle durch unabhängige judikative Strukturen. Das russische System lässt sich daher eher noch als defekt rechtsstaatlich kategorisieren, von rein willkürlichem Handeln kann man in diesem Fall nicht sprechen.

6. Fazit

Wikipedia listet Russland als Fallbeispiel für Defekte Demokratien.[29] Jürgen Hartmann stuft Russland in einem Einführungswerk als Autokratie ein.[30] Wolfgang Merkel selbst ordnet das Land in seine selbst erstellte Kategorie Illiberaler Demokratien und demnach als Defekte Demokratie ein.[31] Anfang 2014 stufte die Bertelsmann Stiftung Russland in ihrem Transformationsindex im Demokratie-Ranking herab, sodass es erstmals als Autokratie geführt wird.[32]

Seit vielen Jahren schwebt das Fallbeispiel Russland im Grauzonenbereich zwischen den beiden Kategorien, ohne dass es eine „richtige“ und eine „falsche“ Einordnung gibt. In dieser Hausarbeit wurde das Fallbeispiel anhand der von Wolfgang Merkel aufgestellten Kriterien zur Unterscheidung von Defekter Demokratie und Autokratie. Geht man streng nach diesem Muster vor, gelangt man in allen sechs Herrschaftskategorien zu dem Ergebnis, dass es sich um noch als eingeschränkt demokratisch anzusehende Prozesse handelt. Rein formal gelangt man nach Wolfgang Merkel als nach wie vor, auch wenn Merkels Forschungen schon ein bisschen älter sind, zu dem Ergebnis, Russland als Defekte Demokratie einzuordnen.

Vermischen oder aufweichen darf man dieses Ergebnis auch nicht, wenn man zusätzlich aktuelle Medienberichte oder die neuen Erkenntnisse der Bertelsmann-Stiftung heranzieht. Zur Erklärung sei nur kurz so viel gesagt: Medienberichte europäisch geprägter Journalisten vergleichen Russland mit den hohen demokratischen Maßstäben innerhalb der europäischen Staaten und von liberalen Werten geprägten Demokratien. Es gibt vielfältige Ursachen dafür, warum ein direkter Vergleich schwer fällt. Zum einen befindet sich Russland seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach wie vor im Transformationsprozess und zum anderen ist Russland das größte Land der Erde. Das zu regierende Gebiet ist unvorstellbar groß und durch verschiedene Ethnien geprägt. Eine starke Führungsrolle aus Moskau oder St. Petersburg gilt daher bei vielen Russen als erwünscht. Die derzeitig starke Rolle des Präsidenten durch den mehrheitlich garantierten Rückenwind aus der Duma ist verfassungsrechtlich gewollt. Das flexible Reagieren in Sachen gesetzlicher Neuerungen ist im russischen Verfassungsrahmen genauso vorgesehen. Kritik an illiberalen Freiheitseinschränkungen darf man daher nicht vorschnell als „gesetzeswidrig“ einstufen, wenn man sie aus freiheitlicher Bürgerrechtsperspektive europäischer Prägung auch zu kritisieren vermag.

Auch der Transformationsindex der Bertelsmann-Stiftung sollte das Ergebnis der Prüfung nach Merkel nicht beeinflussen, denn dieser Arbeit mit anderen Parametern. Wie eingangs erläutert, hat die Gewichtung oder das Heranziehen bestimmter Kriterien maßgeblichen Einfluss auf das gesamte Prüfergebnis. Merkel, eher als Anhänger des mittleren Modells zur Kategorisierung politischer Systeme einzustufen, hat sich dazu entschieden, sozioökonomische Faktoren eher im Rahmen der embedded democracy einzustufen. Sie werden nicht direkt bei der Einordnung verwendet. Der Bertelsmann Transformationsindex berücksichtigt neben den in dieser Hausarbeit behandelten Faktoren beispielsweise auch die Ausprägung Sozialer Sicherungssysteme, Demokratiezustimmung innerhalb der Bevölkerung, zivilgesellschaftliche Beteiligung, Antimonopolpolitik etc. Gerade bei diesen Indikatoren versagt das Fallbeispiel Russland. Hierzu im Hinterkopf sollte man aber behalten, dass Russland eine sehr junge Demokratie ist. Knapp über zwanzig Jahre Zeit hatte das politische System seither erst, sich zu einer Demokratie zu entwickeln. Alte Oligarchenriegen konnten noch genauso wenig durchbrochen worden wie staatliche Ölmonopole oder der in der Bevölkerung stark verankerte Wunsch nach einer starken politischen Führungsrolle aus dem zentralistischen Moskau.

Natürlich wirken die politischen Gepflogenheiten und ja, auch das repressiv anmutende Vorgehen der russischen Exekutive im Rahmen öffentlicher Demonstrationen oder aktuell auch der Olympischen Winterspiele in Sotschi wirkt aus einer anderen Perspektive befremdlich. Auch von einer „lupenreinen Demokratie“ nach Altkanzler Gerhard Schröder kann man nicht sprechen. Aber Russland als Autokratie einzustufen und damit auf eine Stufe mit der Volksrepublik China oder Vietnam zu stellen, wäre ebenso unsensibel. Viel eher ist es zutreffend, dass die Grauzone der Defekten Demokratie hier greift, wenn man einer Einordnung nach Merkel folgt. Abzuwarten bleibt jedoch, wie sich zukünftig die Einschränkung russischer Bürgerrechte entwickelt oder welche Auswirkungen die außenpolitischen Manöver Putins auf seine Wiederwahlchancen für die nächste Wahlperiode haben. Falls es beispielsweise zu weiteren drastischen Freiheitseinschränkungen kommt, juristische Entscheidungen stärker in Richtung Willkür tendieren oder bei den nächsten Wahlen nachweisbar Wahlbetrug begangen wird, muss die Einordnungen jedoch noch einmal überdacht werden.

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