Schritt um Schritt einsamer

Die Menschen in Deutschland werden einsamer: Alleine 16 Millionen Menschen (Stand 2013) in Deutschland leben alleine und fühlen sich einsam. Wissenschaftlich ist auch erwiesen, dass Einsamkeit als Gemütszustand langfristig gesundheitliche sowie psychische Schäden verursacht. (1)

Erstellt von Valbrouel vor 9 Jahren

Jedes Jahr wird diese Zahl größer, was an vielen Formen des Lebenswandels von Jung und Alt liegen dürfte: Immer individuellere Lebensstile, flexibilisierte Arbeitszeiten und andere Umgangsformen lassen es leichter zu, dass wir uns einsam fühlen.

Vanity Fair und das Unternehmen hinter der populären Tinder-Applikation für unterwegs liefern sich einen faszinierenden „Krieg“ um die Interpretationshoheit einer beunruhigenden Tendenz, die seit langem bekannt war und nun genutzt wird. (2) Die einen verteidigen den Lifestyle des schnellen, oberflächlichen Kennenlernens (Tinder), die anderen sehen die Apokalypse der Kennenlernkultur aufziehen und bilden beispielhaft den Niedergang von Romantik, Liebe und festen Beziehungen ab. (3)

Die Bösen, die Erfolgreichen, die Opfertiere und Trophäenjäger.

Tinder ist kein einzelner Bösewicht, welcher Menschen zu einem Leben des schnellen Sex‘ verführt. Der Markt um die Millionen von Singles ist hart umkämpft und jeder versucht mit einzigartigen Merkmalen sich von der Masse der stumpfen Fleischmärkte abzusetzen. „Single“ oder „Partnersuche“ ergeben in jeder Suchmaschine eine Flut von Suchergebnissen, die zu einer unvorstellbar großen Anzahl an Portalen für jeden Geschmack führt. Der Unterschied ist, dass Tinder den Nutzer nur erfahren lässt, ob jemand sich für ihn interessiert. Wenn der Nutzer sich nicht für ihn interessiert, wird er durch einfaches Wischen weggefegt. Die Illusion, dass man nur geliebt werde, ist bestechend und genial. Statt Enttäuschungen wird nur der Erfolg deutlich verkauft: Tinder verkauft Erfolgsgefühle.

Geld und Bekanntheit wird aus der Sucht nach Erfolg der modernen Gesellschaft gezogen. Klug spielt das emotionale Konzept Tinders mit dem Ehrgeiz von Nutzern. Je mehr Partner, desto attraktiver ist man. Die eigene Attraktivität hängt von der Zahl der errungenen Trophäen ab. Kontinuität besteht nur darin, dass man nach der gerade errungenen Trophäe sich die Nächste sucht. Keiner möchte das betrogene Opfer sein, jeder will nur Täter sein und nicht unter die Räder der emotionalen Enttäuschung geraten. Doch die Desillusionierung wird eines Tages kommen: Versprochen.

Der PR-Konflikt: Ein abgekartetes Spiel der Popularität willen.

Nancy Jo Sales von Vanity Fair stellt richtigerweise fest, dass es sich dabei nur um eine Illusion handelt, die letzten Endes das Verhalten der Menschen einander gegenüber zerschlägt und destruktiv werden lässt. Sehr klug setzt sie mit dem Leser sprechende Beispielpersonen, die sich unvermittelt zur Verfügung stellen: Sie sprechen davon, dass es völlig in Ordnung ist von einem Sexpartner zum nächsten zu springen und Bindung, emotionale Nähe links liegen lässt. Die einen spielen in Aussicht auf sexuelle und körperliche Intimität auch Gefühle vor, um kalkulierend die Zielmarke zu erreichen. Dabei spielt konkret das Geschlecht keine Rolle: Charakterschweine und –Säue gibt es in Masse.

Mobile Dating verdrängt wegen der Übermacht des Smartphones und allgemeine Verfügbarkeit rund um die Uhr übliche seriösere Portale. Entweder rüsten diese auf ein ähnlich oberflächliches Konzept, die Verfügbarkeit am Smartphone oder sie sterben aus wegen Nutzermangel. Auch hier sieht man, dass nur der Stärkste und derjenige ohne Skrupel überlebt. Es geht nicht um die Vermittlung von langfristigen Beziehungen, da solche eine ständige Abnahme von Nutzern bedeutet. Abnahme ist Misserfolg, Nutzerwachstum dagegen bringt Geld ein: Geld auf Basis der überbordenden Einsamkeit.

Es geht nicht mehr um eine Bindung oder das Finden eines Partners, jetzt passen sich die Portale auf das Tinder-Konzept an, während Tinder sich über Twitter verbissen dagegen wehrt, als amoralisch bezeichnet zu werden. Die amüsante Kritik stellt Ellen Ivits von der Stern.de-Redaktion bildlich dar: Fehlender journalistischer Stil, schlechte Recherche und das Befragen der falschen Nutzer von Tinder. Affront, Skandal! Dass sich die Autorin von Vanity Fair und die Tinder-Mitarbeiter gegenseitig Steilvorlagen zuschieben, bemerken dagegen die wenigsten. Schlechte PR ist auch PR und bringt Bekanntheit. Dagegen bleibt Vanity Fair mit diesem Coup in aller Munde. Je mehr geredet wird, desto besser. Die September-Ausgabe dürfte ausverkauft sein. Gelungene Zusammenarbeit sieht so aus.

Einsame bleiben auf der Strecke – Die Kundschaft ist gesichert.

Während zunächst auch Wissenschaftler das Thema „Einsamkeit“ gemäß dem gesellschaftlichen Tabu ebenfalls nicht angerührt haben, rühren diese sich seit einigen Jahren und forschen interdisziplinär am Thema entlang. Die Feststellungen sind weitestgehend einleuchtend und ohne wissenschaftliche Ausbildung verständlich: Einsamkeit hat unglaublich negative Auswirkungen auf den menschlichen Körper, Gesellschaften mit einem hohen Grad an Vereinsamung leiden an Schwäche von Zusammenhalt und lösen sich mehr und mehr auf, besonders der Zusammenhang zwischen Erfolgssucht und Einsamkeit ist mehr als offensichtlich. (4)

Vereine wie Wahlverwandtschaften e.V. versuchen diesem Trend entgegen zu wirken und versuchen gemeinsam mit der Einsamkeitsforschung auf dieses Thema zu sensibilisieren. Natürlich mit weitaus geringerer Reichweite und Erfolg als die beschriebene PR-Masche von Tinder und Vanity Fair. Vor vier Monaten wurde mithilfe des Marktforschungsinstituts Harris Interactive in Erfahrung gebracht, dass im Vergleich zu 1993 die Menschen sich viel einsamer fühlten. (5)

Die gesellschaftliche Debatte, die scheinbar entbrannt ist aufgrund von dieses geschickt eingefädelten PR-Zweikampfes, ähnelt mehr einem Ringkampf, als einer ernsthaften Aufarbeitung. Begeistert schleudert man sich den Dreck in der Arena ins Gesicht, verteidigt die (mitunter krankhafte) Erfolgsorientierung als konstitutives Element der kapitalistischen, fortschrittlichen, freiheitlichen Gesellschaft oder aber verteidigt die Notwendigkeit und Anständigkeit ernsthafter menschlicher Bindungen. Doch das Problem ist zu ernst, als das man dieses destruktive Potenzial für unsere Gesellschaft missachten könne.

Quell- und Literaturangaben

  1. Walter, Tanja (2013): Gefahr für Senioren und Singles. So krank macht Einsamkeit; RP-Online.de, abgerufen am 17.08.2015.
  2. Ivits, Ellen (2015): Krieg mit „Vanity Fair“. Tinder twittert sich in den PR-Super-GAU; Stern.de, abgerufen am 17.08.2015.
  3. Sales, Nancy Jo (2015): Tinder and the Dawn of the “Dating Apocalypse”; Vanity Fair, abgerufen am 17.08.2015.
  4. Weiß, Bertram (2012): Einsamkeit macht Menschen krank; Tagesspiegel.de, abgerufen am 17.08.2015.
  5. Harris Interactive AG, Wahlverwandtschaften e.V. (2015): Einsamkeit und Gemeinsamkeit in Deutschland, abgerufen am 17.08.2015.
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