Schuldbegriff bei A. Dürrenmatt

Konzepte von Moral und Schuld in Der Besuch der alten Dame Protagonist und Antagonisten

Eine ältere Dame besucht den Ort ihrer Jugend, ein verschlafenes Nest, welches „… irgendwo zwischen dem Konradsweilerwald und der Niederung von Pückenried gebettet liegt.“ (Dürrenmatt 1998: 43). Eingebettet ist der richtige Ausdruck für die Gemeinde, welche sich Irgendwo im Nirgendwo befindet. Denn sie hatte schon bessere Zeiten gesehen, die Gemeinde. Industrieruinen, wie beispielsweise die Wagnerwerke, zeugen vom einstigen Wohlstand. Auch die Platz-an-der-Sonne-Hütte steht längst im Schatten des Verfalls. Sogar einen Bahnhof besitzt der zunächst namenlose Ort. Doch die Züge haben keine Notwendigkeit mehr im Ort zu halten. Stattdessen fahren sie vorbei, hin zu Orten, in denen die Wirtschaft floriert, zu Orten, welche Touristen anziehen und zu Orten in welchen das Leben tobt.

Erstellt von science2712 vor 12 Jahren

Dem modernen Leser fällt es nicht schwer, sich die Not der Kleinstadt vorzustellen, denn jeden Tag füllt die Not von Pleitekommunen die Tagesblätter. Das Wirtschaftwunder gehört der Vergangenheit an. Eine Weltwirtschaftskrise hat Städte und Länder erschüttert. Ihr fielen nicht nur Arbeitsplätze und kleine Gewerbe zum Opfer. Auch kulturelle Einrichtungen, wie Theater und Sportstätten kämpften und kämpfen ums Überleben. Mit den geringen Einnahmen der Gewerbesteuern sinken die städtischen Haushalte. Mit den schrumpfenden Haushalten verringert sich die Qualität des städtischen Lebens.

Was fehlt ist Geld- pures Geld. Geld ist die Lösung für eine sterbende Wirtschaft, für die sich verringernde Kultur und den Qualitätsverlust des Gemeinlebens. Allein durch Geld würde es jeden einzelnen Bewohner einer Gemeinde besser gehen. Mit Geld gibt es Hoffnung auf Wohlstand und Hoffnung auf eine Wiederkehr der alten Zeiten.

Wer wundert sich da noch ernsthaft, dass die Bewohner von Güllen alle Hoffnungen in den so genannten Besuch der alten Dame setzen. Zumal diese mittlerweile Milliardärin geworden ist. Und so hoffen sie, dass sich die Dame als Wohltäterin erweist und ihrer alten Heimat etwas Geld spendet. Entsprechend pompös bereiten der Bürgermeister und die Bewohner des Ortes den Empfang der alten Dame vor. Die größten Hoffnungen der Bewohner ruhen dabei auf Ill, einem erfolglosen Ladenbesitzer, dem einstigen Jugendfreund der Milliardärin. Die Bewohner hoffen, dass er die Multimillionärin bezirzen kann.

Doch alles kommt anders.

Der Lehrer bemerkt es zuerst: „Schauerlich, wie sie aus dem Zuge stieg, die alte Dame mit ihren schwarzen Gewändern. Kommt mir vor wie eine Parze, wie eine griechische Schicksalsgöttin. Sollte Klotho heißen, nicht Claire, der traut man es noch zu, daß sie Lebensfäden spinnt:“ (Dürrenmatt 1998: 34)

Und wahrlich ist es keine Sentimentalität, welche die alte Dame in ihre Heimat treibt. Stattdessen ist sie von niederen Gedanken der Rache erfüllt. Und das Ziel ihrer Rache ist Jugendfreund Alfred Ill. Den beschuldigt sie schwer.

Er hat sie geschwängert, sitzen gelassen und die Vaterschaft abgestritten. Dies hat sie ihm nie verziehen. Auch das sie mittlerweile ein schwer reiche Frau geworden ist, hindert sie nicht an ihren Rachegedanken. Ganz im Gegenteil. Claire Zachanassian ist der Ansicht, dass mit genügend Geld alles käuflich ist.

Und so erklärt sie nach der feierlichen, heuchlerischen Begrüßung, welche ihr zuteil wurde: „… Um jedoch meinen Betrag an eure Freude zu leisten, will ich gleich erklären, daß ich bereit bin, Güllen eine Milliarde zu schenken. Fünfhundert Millionen der Stadt und fünfhundert Millionen verteilt auf alle Familien.“ (Dürrenmatt 1998: 44) Die Sprachlosigkeit der Kleinstädter löst sich, als Claire vermittelt, dass sie Bedingungen stellt: „Ich will die Bedingung nennen. Ich gebe euch eine Milliarde und kaufe mir dafür die Gerechtigkeit.“ (Dürrenmatt 1998: 45) Mit den Worten: „Ich kann sie mir [die Gerechtigkeit] leisten. Eine Milliarde für Güllen, wenn jemand Alfred Ill tötet.“ (Dürrenmatt 1998: 49)

Die Reaktion des Bürgermeisters entspricht zunächst der Moral: „Noch sind wir in Europa, noch sind wie keine Heiden. Ich lehne im Namen der Stadt Güllen das Angebot ab. Im Namen der Menschlichkeit. Lieber bleiben wir arm denn blutbefleckt.“ (Dürrenmatt 1998: 50) Dieser Satz markiert das Ende des ersten Aktes.

 

Schuld, Rache, Stolz, Eigennutz und die Gerechtigkeit

 

An dieser Stelle sollen die Motive der Claire Zachanassian hinterfragt werden. Zweifellos ist die alte Dame der Antagonist dieser Komödie. Sie fungiert als Gegenspielerin von Alfred Ill, dem Protagonisten und der Hauptfigur des Stücks. Alfred Ill ist der Dreh-und Angelpunkt. Auf sein Leben richtet sich die künftige Zerrissenheit der Bewohner von Güllen. Von seinem Leben oder Tod hängt die Zukunft der Gemeinde ab, von ihm, der sich einst schuldig gemacht hat. Wie schwer wiegt seine Schuld? Er handelte unmoralisch, als er sich der Verantwortung für sein Kind entledigte und quasi den Dorfdeppen zum Meineid überredete, indem dieser vor Gericht erklärte, das Kind gezeugt zu haben. Claire verließ in Schande die Stadt und verdankt es dem Zufall, dass ein Millionär sie aus dem Elend herausholte. Das Kind war zu dem Zeitpunkt schon lange tot. Es starb mit einem Jahr und spielt keine Rolle in der Geschichte. Seinem Leben wird an keiner Stelle nachgetrauert. Es sind allein die gekränkten Gefühle von Claire, welche sie zum Handeln nach so langer Zeit treiben. Ihr Herz in dem Maß erkaltet,  wie die Summe ihres Geldes stieg.  Und so macht sie den Einwohnern von Güllen das unmoralische Angebot die längst vergangene Schuld des Jugendfreundes, der mittlerweile selbst Familie hat, zu sühnen. Sie holt die Vergangenheit in die Gegenwart. Alfred Ill hat einst ihren Stolz verletzt und damit ihr Ehrgefühl.

Doch was ist Stolz? Kann er so groß und selbstbezogen sein, dass er zu einem Mord führt? Für Aristoteles, den bekanntesten Philosophen der Antike, war Stolz die Krone der Tugenden, deren Preis die Ehre ist.[1] Ganz anders sieht dies die theologische Ethik. Dort heißt es: „ In der Tradition der Theologie wird die eine, ursprüngliche Sünde, die die Wurzel aller Einzelsünden ist (Ursünde), entsprechend im Stolz und im Hochmut des Menschen (superbia) gesehen. Augustinus sieht im Stolz und im Hochmut den Anfang des bösen Willens und aller Sünde. Der Hochmut aber sei nichts anders als das Streben nach verkehrter Hoheit, die darin besteht, den eigenen Urgrund zu verlassen und sich selbst zum Urgrund zu werden. Demgegenüber ist die Demut, die der Sohn Gottes als Mensch geübt und erwiesen hat, das Heilmittel, das nicht nur das Symptom der Krankheit, sondern sie von der Wurzel her kuriert.“ (Ernst 2009:311)  In dieser Tradition wird der Stolz also nicht als gesundes Selbstbewusstsein wahrgenommen, sondern als Hochmut. Am Stolz scheiden sich die Geister. Heute wird Stolz überwiegend in Bezug auf großartige (sportliche) Leistungen wahrgenommen. Aber Stolz können auch bestimmte soziale Schichten zeigen, wie die Arbeiterschicht oder Handwerker, die trotz aller Widrigkeiten ihren Berufstand von Generation zu Generation weitergeben. Insofern ist der Stolz nicht schlecht, sondern kann als Motor, als Antrieb gesehen werden.

Aber als Antrieb fungiert der verletzte Stolz auch bei Claire, das ihr Heimatdorf dazu auffordert eine Sünde zu begehen.

Der verletzte Stolz, die genommene Ehre und ihre vergangene Schande schreien nach Rache. Mit dieser Rache soll eine späte Gerechtigkeit hergestellt werden. An dieser Stelle wird die nächste Frage deutlich: Kann man Gerechtigkeit kaufen? Was bedeutet Gerechtigkeit überhaupt? Immanuel Kant äußerte sich dazu in seinem Werk der Metaphysik der Sitten: „ Wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, dass Menschen leben auf Erden.“ (Kant 1909: 362f.) Ist Gerechtigkeit also eine Angelegenheit von Menschen? Sollen Menschen für Gerechtigkeit sorgen? Fast alle Gesellschaften verfügen über ein Strafrecht, welches für Gerechtigkeit sorgt und gesetzeswidrig handelnde Menschen ihrer Strafe zuführt. Doch jede Gesellschaft bringt Ungerechtigkeiten hervor, welche nicht ins Strafrecht passen. Ungerechtigkeiten ergeben sich bereits mit der Geburt. Einige Menschen kommen schwer krank zu Welt, während wieder andere Menschen ihre Gesundheit bewusst (z.B. mit Drogen) zerstören. Es gibt massive Unterschiede zwischen arm und reich, klug und dumm, schön und hässlich, groß und klein, dick und dünn. Diese sind oft mit der Geburt gegeben. Oft findet sich dafür ein Ausgleich, bezüglich anderer Merkmale und Charaktereigenschaften. Doch was, wenn dies nicht der Fall ist? In unserer modernen Gesellschaft sind viele Dinge käuflich, die noch vor Jahrzehnten als unabänderlich galten. Ohren, Nasen, Münder, Brüste- alles kann mit Hilfe der Chirurgie den gängigen Normen angepasst werden und von der Natur gegebene Ungerechtigkeiten körperlich ausgleichen. Also lässt sich Gerechtigkeit kaufen, oder nicht?

Gerechtigkeit ist ein Wort, welches sich nicht nur auf materielle oder körperliche Gegebenheiten bezieht. Wenn jemand grundlos beleidigt, beschimpft oder beschuldigt wird, dann ist dies ebenso ungerecht. Gerechtigkeit ist ein Handeln, welches nach moralischen und ethischen Grundsätzen geschieht. Es ist ein abwägen und austarieren zwischen guten und bösen Kräften. Laut biblischen Verständnisses ist es dem Menschen unmöglich aus eigener Kraft gerecht zu sein, denn er wird immer wieder Dinge zu seinem eigenen Vorteil tun. Eigennutz macht ungerecht.[2]

Beim Kaufen der Gerechtigkeit, wird ein moralischer Wert, wie es Gerechtigkeit darstellt,  mit Geld aufgewogen, eine Sache, die an sich unmöglich ist. Liebe lässt sich schließlich auch nicht kaufen. Dazu kommt das Verständnis von Gerechtigkeit, welches die Person besitzt, die sich anmaßt, diesen Wert zu kaufen. Aug um Aug, Zahn um Zahn, so hieß es im Alten Testament. Gilt das auch bei der alten Dame? Der Fortgang der Geschichte wird es zeigen….

 


[1] Aristoteles (332 v. Chr.): Nikomachische Ethik III, 1-3, 1109b.


[2] Vgl. http://www.hopenet.ch/cms.cfm/s_page/57010, zuletzt eingesehen am 17.8.2012

 


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