Theorien und Ansätze des Zweitspracherwerbs
Unsere heutige, globale Gesellschaft ist im Alltag wohl mehr denn je mit der Konfrontation unterschiedlicher Kulturen und somit – als eine der kulturellen Ausdrucksformen – unterschiedlichen Sprachen konfrontiert. Besondere Aktualität verleiht dem Thema "Zweitsprachenerwerb" die Tatsache, dass diese kulturelle und sprachliche Vielfalt in den heutigen Schulalltag Einzug gehalten hat. Leistungsnachteile von Schülern mit Migrationshintergrund aus unterschiedlichen Kulturgemeinschaften im internationalen Schulvergleich erfordern die Entwicklung geeigneter Konzepte, um wachsenden Problemen kultureller, migrationsbedingter Heterogenität angemessen entgegenwirken zu können und dem Anspruch der Chancengleichheit durch Schulbildung gerecht zu werden. Sprachliche Defizite repräsentieren nur eine der vielen Möglichkeiten mangelnder Leistung, oft gehen sie aber miteinander einher. Der Sprachbeherrschung wird daher eine dominierende Rolle im Rahmen des Bildungserfolgs zugesprochen[1]. In der vorliegenden Arbeit werden aus der Sicht der Linguistik zum Zweitsprachenerwerb gängige Ansätze vorgestellt, die eine Grundlage für die Auseinandersetzung mit Lerndefiziten und der Entwicklung geeigneter, integrativer Unterrichtskonzepte bieten kann.
1. Unterscheidung Erstsprache/Zweitsprache/Fremdsprache
Die Erstsprache wird häufig synonym für die sog. Muttersprache verwendet, dies jedoch ist nicht zwingend – es handelt sich hierbei um die chronologisch zuerst erlernte oder die im Alltag dominierende Sprache. Die Zweitsprache wird häufig danach, als Alltagssprache für das außerfamiliäre Umfeld erlernt. Der grundlegende Unterschied zwischen Erst- und Zweitsprachenerwerb liegt nun darin, dass der Lerner Strukturen verwendet, die der Zielsprache nicht entsprechen[2]. Man unterscheidet weiterhin zwischen dem gesteuerten und dem ungesteuerten Zweitsprachenerwerb[3]: Der gesteuerte Zweitsprachenerwerb wird durch Unterricht unterstützt, der ungesteuerte erfolgt quasi autodidaktisch im Alltag[4] und dient der Integration in eine andere Sprachregion.
Der Erwerb einer Fremdsprache wird von demjenigen einer Zweitsprache folgendermaßen unterschieden[5]: Eine Zweitsprache dient bereits in den frühen Stadien des Spracherwerbs als Kommunikationsmedium und Sozialisationssprache, d. h. die Sprache wird für und innerhalb einer Zielkultur erworben, während die Fremdsprache grundsätzlich gesteuert und zielgerichtet gelernt wird: Zweckgebunden, z. B. für einen geplanten Aufenthalt in einem Zielland und durch Unterricht.
2. Theorien
Seit den 40er Jahren ist der Zweitsprachenerwerb Forschungsgegenstand und führte zur Entwicklung folgender Theorien, die im Folgenden kurz erläutert werden:
2.1. Kontrastivhypothese
Als Kontrastiv wird die Gegenüberstellung von zwei Sprachen verstanden, um deren Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu ermitteln. Sie wurde, angelehnt an die sog. behavioristische Spracherwerbsforschung als Prozess einer Konditionierung, von Fries (1947) initiiert und von Lado (1957) weitergeführt. Die Hauptaussagen der Kontrastivhypothese sind, dass identische Elemente und Regeln leicht und fehlerfrei zu erlernen seien (Strukturidentität), unterschiedliche Elemente dagegen Lernschwierigkeiten bzw. Fehler verursachen (Strukturdivergenz)[6]. Die Übertragung von Wörtern der Erstsprache auf die Zweitsprache birgt Risiken, d. h. es kommt zu so genannten "Interferenzen" oder "negativen Transfers", wenn die Übersetzung nicht fehlerfrei möglich ist[7]. Das Gegenteil bildet der "positive Transfer". Die Aussagekraft dieser Theorie ist wegen der Betrachtung der Sprache und nicht des Sprechens auf formale Aspekte begrenzt.
2.2. Die Identitätshypothese
Die auf der Chomsky-Hypothese (Nativismus) beruhende Identitätshypothese geht davon aus, dass der Erwerb der Zweitsprache prinzipiell dem Erstspracherwerb gleichgeordnet ist, also jede Sprache zu jedem Zeitpunkt erlernbar sei und alle natürlichen Sprachen gleichen universalen Prinzipien folgen[8]. Kritisiert wurden bei der Identitätshypothese vor allem die Untersuchungsmethoden und die Annahme universaler Spracherwerbsprozesse als Basis der Hypothese. Sie beruht auf dem Verständnis, dass der Zweitspracherwerb ein kreativer, kognitiver Prozess ist, in dem der Lerner systematisch Hypothesen über die Struktur der zu erwerbenden Sprachen bildet, überprüft und revidiert, dabei werden Fehler als notwendige Entwicklungsstadien innerhalb des Lernprozesses angesehen.
2.3. Die Interlanguagehypothese
Hierbei wird von der Bildung eines flexiblen, spezifischen Sprachsystems (Interlanguage: Interimssprache) beim Erlernen ausgegangen, die Charakteristika der Erst- und Zweitsprache sowie neuer, unabhängiger Merkmale beinhaltet. Sie unterliegt lernerspezifischen Prozessen, Strategien und Regeln. Der Begriff Interlanguage wurde geprägt durch L. Selinker[9], der fünf psycholinguale Prozesse unterscheidet:
1. Language transfer: Übertragung von Erst auf die Zweitsprache
2. Transfer of training: Anwendung bestimmter Strukturmuster, die Aufgrund des benutzten Übungsmaterials erworben worden sind
3. Strategies of second language learning: Bildung von Strategien für eigene Interlanguage-Regeln, Überprüfung und Revidierung
4. Strategies of second language communication: Strategien als Hilfe in konkreten Kommunikationssituationen
5. Overgeneralization of target language material: korrekt erworbene Regeln werden in Bereiche übertragen, in denen sie nicht gültig sind.
Ein weiterer Aspekt der sog. Interlanguagehypothese ist die bei vielen Zweitsprachen-erwerbern zu beobachtende Fossilierung, die auf der Erfahrung des Lernenden beruht, zu verstehen, verstanden zu werden und daher die Verbesserung seiner sprachlichen Fähigkeiten vernachlässigt. Unter Beibehaltung dieser fossilierten Strukturen kann es zu einem sog. back-sliding kommen, in ein früheres Stadium der Interlanguage.
2.4. Monitortheorie
Die von S. Krashen begründete Monitorhypothese geht davon aus, dass die Zweitsprache im Rahmen sozialer Situationen und sprachlichem Handeln erworben wird. Es handelt sich um eine mentale Kontrollinstanz des Lerners, und individuell lernerspezifisch ist; sie beruht auf Beobachtung und Nachahmung. Dieses Regelsystem kann als Monitor bezeichnet werden.
Weitere Faktoren, die den Spracherwerb beeinflussen, werden in biologischen, soziologischen und psychologischen Komponenten gesucht.
Hierzu gehört die Akkulturation[10], d. h. die Reaktion fremder Ethnien aufeinander bzw. die Anpassung einer Ethnie an Charakteristika einer anderen Gruppe ("Integration"). Die Art und Weise des Aufeinandertreffens bzw. die Gründe für eine Einwanderung und die Akzeptanz in der Fremde beeinflusst selbstverständlich auch die Lernmotivation.
Die Interaktionshypothese beruht auf der Beeinflussung des Zweitsprachenerwerbs durch die Umgebung, indem Kommunikation beim Sprachenerwerb der Automatisierung als Übungs- bzw. Lernmedium dient. Missverständnisse, Feedback in Form von Kritik etc. werden auch hier zur Weiterentwicklung der Sprachfähigkeit positiv bewertet.
Die Inputhypothese[11] und Outputhypothese[12] beschäftigen sich mit der Annahme, dass die Anwendung eine zentrale Rolle bei der Aneignung einer Zweitsprache spielt: Nach der Inputhypothese führt die Konfrontation mit neuem Wissen zur Integration dieser Informationen in den vorhandenen sprachlichen Wissensbestand, auch wenn dieser Prozess nicht unbedingt bewusst verläuft. Die Outputhypothese sagt etwas über die Anwendung des Gelernten aus und befürwortet, dass Lernende die Möglichkeit bekommen, ihren Output kooperativ zu entwickeln, zu modifizieren und zu korrigieren, d. h. die zu erlernende Sprache durch aktives Sprechen möglichst häufig zu erproben
Grundsätzlich wird dem Alter, bezogen auf den Spracherwerb, eine zusätzliche, große Bedeutung beigemessen und wird geprägt von der sogenannten Kritische Periode-Hypothese[13]: Hier wird von einer optimalen Periode (zwischen dem 2. und 13. Lebensjahr) für die Voraussetzungen, sich eine Sprache anzueignen, ausgegangen. Weitere Studien zum Thema Sprachentwicklung und Alter, die danach erschienen sind, erlauben hingegen keineswegs eindeutige Ergebnisse zum Alter als Lernfaktor. Ein jüngeres Alter mag wohl Vorteile bieten und besonders für den Erwerb der Aussprache besonders günstig sein, ist aber wohl nicht allein entscheidend[14].
Die Diskussion um den Faktor "Alter" im Sprachenerwerb hat dennoch Konsequenzen auf die Auseinandersetzung mit dem Zweitsprachenerwerb von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Dieser von dem Zweitsprachenerwerb der Erwachsenen dadurch unterschieden, dass der Erwerb der Zweitsprache zu einem Zeitpunkt einsetzt, in dem weder die kognitive und psychische Entwicklung abgeschlossen, noch die Erstsprache voll ausgebildet ist, wobei die Rolle der Erstsprache in Bezug auf ihren Einfluss auf die Zweitsprache bislang strittig ist.
Zur Erklärung mangelnder erstsprachlicher Kompetenzen und zugleich von Defiziten im Erwerb der Zweitsprache wird in diesem Zusammenhang die Interdependenz- und Schwellenhypothese nach Cummins diskutiert. Erstere besagt, dass sich erstsprachliche Fertigkeiten nur langsam bzw. gar nicht mehr weiterentwickeln, wenn Kinder zu früh mit einer zweitsprachigen Lernumgebung konfrontiert werden und gleichzeitig ihre Erstsprache nicht weiter gefördert wird[15]. Die Schwellenhypthese untersucht, inwiefern sich die Zweisprachigkeit eines Lerners positiv oder negativ auf seine kognitive Entwicklung auswirkt, die vom Sprachniveau, das der Lerner in beiden Sprachen erreicht, abhängig sei.
Im Gegensatz zu den Erwachsenen leben die Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund spätestens ab ihrer Schulzeit in einer Umgebung, in der Deutsch, und damit die Zweitsprache, die hauptsächlich verwendete Sprache ist und auf diese Weise ein günstiges Lernumfeld bietet, die v. a. der Interaktionshypothese, Input- und Outputhypothese entspricht. Insofern würden sich für Schüler mit Migrationshintergrund innerhalb der Schulzeit hervorragende Chancen zum Spracherwerb bieten und somit auch zum Bildungserwerb, der an dieser Stelle seitens der Schule bzw. des Staates optimiert werden soll, zur Optimierung herausfordert, solange diese Chancen nicht genutzt werden.
Zusammenfassend ist zu sagen, dass bislang keine Klarheit über die Validität und Stellenwert der vorgestellten Theorien zum Zweitsprachenerwerb herrscht, sondern in einer Reihe von Annahmen darüber aufgehen, welche Faktoren am Prozess des Zweitsprachenerwerbs beteiligt sind. Es ist anzunehmen, dass die genannten Theorien bzw. Faktoren zahlreiche Interdependenzen aufweisen.
Es ist künftig durch weitere Studien zu ermitteln, wie sich der Zweitsprachenerwerb manifestiert und folglich verbessert werden kann bzw. die Interdependenzen ein geschlossenes Bild ergeben. Individuellen Lernprozessen sollte zudem breiter Raum gegeben werden.
[1] Baumert/Schümer, Familiäre Lebensverhältnisse, Bildungsbeteiligung und Kompetenzerwerb, in: J. Baumert, E. Klieme, M. Neubrand, M. Prenzel, U. Schiefele, W. Schneider, P. Stanat, K.-J. Tillmann & M. Weiß (Hrsg.), PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich (S. 323–407). Opladen: Leske u. Budrich. 2001, S. 379.
[2] R. Dietrich/J. Weissenborn, Erwerbsprozesse im Erstsprachenerwerb und Zeitsprachenerwerb, in: B. Ahrenholz et al. (Hrsg.), Empirische Forschung und Theoriebildung, 2008, S. 217-226.
[3] E. Apelthauer 1989; B. Ahrenholz, Erstsprache – Zweitsprache – Fremdsprache, in: B. Ahrenholz/I. Oomen-Welke, Deutsch als Zweitsprache, DTP, Band 9, 2010, S. 8-9.
[4] B. Ahrenholz, Zweitspracherwerbsforschng, in: B. Ahrenholz/I. Oomen-Welke, Deutsch als Zweitsprache, DTP, Band 9, 2010, S. 64-80.
[5] W. Klein 1992; zum Zweitsprachenerwerb grundlegend s. auch M. Ott, Deutsch als Zweitsprache, 1997.
[6] Hufeisen & Riemer 2010, Spracherwerb und Sprachenlernen. In H. J. Krumm, C. Fandrych, B. Hufeisen & C. Riemer (Eds.), Deutsch als Fremd- und Zweitsprache: Ein internationales Handbuch (S. 738-753). Berlin: Walter de Gruyter, S. 738.
[7] E. Apeltauer 1997, Grundlagen des Erst- und Zweitspracherwerbs. Eine Einführung. Fernstudienprojekt des DIFF (Band 15). Universität Kassel und Goethe-Institut. München: Langenscheidt , S. 80.
[8] Vgl. Untersuchungen von Dulay & Burt (1974) mit dem Bilingual-Syntax-Measure-Test, bei dem der Erwerb von englischen, grammatischen Morphemen bei 5 bis 8jährigen chinesischen und spanischen Kindern eine Übereinstimmung bei der Erwerbsfolge der Morpheme festgestellt wurde: E. Oskaar, Zweitspracherwerb: Wege zur Mehrsprachigkeit und zur interkulturellen Verständigung. Stuttgart 2003, S. 104-105.
[9] L. Selinker, Interlanguage, in: International Review of Applied Linguistics, in: Language Teaching 10, 1972, H. 3, S. 209-231.
[10] J. H. Schumann, Research on the Acculturation Model for the Second Language Acquisition, in: Journal of Multilingual and Multicultural Development 1986, H. 7, S. 379-392.
[11] G. Henrici, Spracherwerb durch Interaktion? Eine Einführung in die fremdsprachenerwerbsspezifische Diskursanalyse, Baltmannsweiler 1995.
[12] M. Swain, Communicative Competence, in: S. M. Gass et al., Input in Second Language Acquisition, Rowley/Mass. 1985, 235-253.
[13] E. H. Lenneberg, Biological Foundations of Language. New York 1967.
[14] H. Molnár, Der Einfluss des Faktors Alter auf die Aussprachekompetenz in der L2. Ergebnisse einer Pilotstudie mit DaZ-Lernern, in: Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht. Didaktik und Methodik im Bereich Deutsch als Fremdsprache 15/1, 2010, S. 42-60.
[15] J. Cummins, Language, Power, and Pedagogy. Bilingual Children in the Crossfire. Clevedon 2000, S. 175.