Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt! -- Beobachtungen zu einem Argument in Platons Staat V.
Einleitung -- Das Argument und sein Kontext
Am Ende des fünften Buchs von Platons Staat findet sich eine äußerst vertrackte, auf den ersten Blick nur schwer zu überschauende Passage (474b-480a), in der Sokrates zu erklären sucht, welche Menschen mit Recht Philosophen genannt werden sollen und wie man sie von einem anderen, für den oberflächlichen Betrachter zumindest ähnlichen Menschenschlag\footnote{Diese andere Gruppe sind die "`Schaulustigen"', bzw. wie sie am Ende genannt werden: "`Meinungsliebende"'.} abzugrenzen hat. Dies geschieht im Gesamtkontext des Werkes an der Stelle unmittelbar nachdem durch einen zunächst zägerlichen Sokrates die These enthüllt wurde, dass die Philosophen in den Städten regieren müssen, damit die Verhältnisse sich zum besseren wenden. Die metaphilosophischen Überlegungen gehören daher unmittelbar zur Vorarbeit für die Begründung und Rechtfertigung dieser schwerwiegenden politischen These, denn, so erklärt Sokrates (474b), bevor er überhaupt gegen die erwartbaren skeptischen Vorbehalte dagegen zu argumentieren beginnen kann, muss erst dafür gesorgt sein, dass man sich einig darüber ist, was mit dem Begriff "`Philosoph"' gemeint ist. Die Bereitung solcher gemeinsamer Grundlagen für weitergehende Erörterungen ist der eigentliche Zweck, der in dem ganzen hier zu bearbeitenden Textausschnitt verfolgt wird.
Das besonders Interessante an der Passage ist aber, dass der Argumentationsgang, der für den anvisierten Punkt angeboten wird, einige beträchtliche Umwege durch zwei andere Kernbereiche der Philosophie -- Metaphysik und Erkenntnistheorie -- beschreitet und dort inhaltlich gewichtige, systematische Überlegungen einschließt, die für sich betrachtet eigentlich von viel größerem Interesse sind als die spezifische, politiktheoretisch motivierte Auffassung Platons zum Geschäft der Philosophen. Man kann diesen Abschnitt daher auch vollkommen isoliert von dem Rest des Staat-Projekts als eine philosophische Untersuchung zu den Themen Wissen, Meinung und Existenz betrachten. Diesen Standpunkt werde ich auch in meiner folgenden Rekonstruktion der zentralen Gedanken der Passage einzunehmen versuchen.
Den inhaltlichen Kern des zur Diskussion stehenden Dialog-Abschnitts bilden zwei Argumente, in denen eine Antwort auf die Frage entwickelt wird, wodurch Philosophen, für die als wesentliches Charakteristikum angenommen wird, dass sie sich für jegliches Wissen und Erkenntnis der Wahrheit begeistern können, zu unterscheiden sein mögen von bloß neugierigen und schaulustigen Zeitgenossen, die zwar begierig sind, bestimmte Phänomene der Welt (Dionysien etc.) wahrzunehmen bzw. "`etwas zu erfahren"' (475d), von denen es aber schon intuitiv abwegig wäre, sie als Philosophen zu bezeichnen. Das erste dieser Argumente ist relativ kurz und einfach zu durchschauen. Auch mit Kritik daran wird sich niemand schwer tun. Es ist ein direktes Argument, das sich gemäß der Ankündigung des Sokrates an jemanden wie Glaukon wendet, der bestimmte metaphysische Grundannahmen mit Sokrates teilt Daher kann das Argument schnell und ohne große Probleme im Rückgriff auf diese gemeinsame Basis entwickelt werden. Mit dem ersten Argument werde ich mich in der ersten der folgenden Abteilungen befassen. Der Rest der Arbeit gilt dann dem wesentlich schwierigeren zweiten Argument, das für dieselbe Konklusion dargelegt wird, aber in einem völlig anderen dialektischen Kontext steht. Hier ist das ausdrückliche Ziel, auch einen Gegner, dessen Part Glaukon zumindest hypothetisch übernimmt, davon zu überzeugen, dass jemand, der die platonische Metaphysik nicht anerkennt, kein Philosoph sein kann. Wir haben es also mit einer Art indirekten Beweises zu tun, in der von für beide Seiten unkontroversen Annahmen ausgegangen werden und an dessen Ende die Position des Gegners ad absurdum geführt worden sein muss. Das Argument und mit ihm meine Untersuchung gliedert sich in verschiedene inhaltliche Komponenten, die genau auseinanderzuhalten der Klarheit und dem Verständnis förderlich ist. Ich werde zunächst auf die Erkenntnistheorie eingehen müssen, die Platon in diesem Zusammenhang entwickelt und hier vor allem auf seine Auffassungen zur Unterscheidung von Wissen/Erkenntnis und Vorstellung/Meinung. Im Zusammenhang damit werde ich auch ein paar Worte über die dieser zugrundeliegende Konzeption der "`Vermögen"' verlieren. In der darauffolgenden Abteilung werde ich den metaphysischen Gehalt des Arguments erörtern und hierbei vor allem auf Platons Ansichten zu Sein und Seiendem verweisen. Im letzten Abschnitt werde ich dann die Fäden aufnehmen und zusammenführen, um zu zeigen, wie der zentrale metaphilosophische Punkt, um den es geht, gewissermaßen als Korollar aus dem vorhergegangenen folgt. Diese Reihenfolge der Themen ist nicht an der Chronologie des Textes orientiert, sondern verdankt sich ausschließlich systematischen Erwägungen.
Präludium für Eingeweihte
Wie oben schon angedeutet ist die dialektische Umgebung, auf die das erste Argument (475e-476d) zielt, eine grundsätzlich freundliche. Es soll auf möglichst einfache Weise einem der Weltsicht des Sokrates wohlgesonnenen Gesprächspartner erklären, dass die Philosophen sich von den bloß Schaulustigen eben dadurch unterscheiden, dass sie nicht wahllos ihr Interesse auf irgendetwas richten, sondern "`schaulustig sind nach der Wahrheit."' (475e) In diesem ersten Anlauf begnügt sich Sokrates mit dem Ergebnis, dass jemand, der eine platonistische Ontologie der abstrakten Objekte ablehnt, keine "`Einsicht"' erlangen kann, sondern stets auf "`Meinung"' bzw. "`Vorstellung"' beschränkt bleibt. Er ist nicht fähig, die Wahrheit zu erkennen, was aber dann zusammen mit der zuvor gegebenen etymologischen Definition von Philosophen als Menschen, die die Weisheit, also wirkliche Erkenntnis der Welt lieben, zu der Schlussfolgerung führt, dass jeder, der die Wahrheit der platonischen Ideenlehre verkennt, auch zu allen anderen Wahrheiten keinerlei Zugang haben und daher von vornherein kein Philosoph sein kann. Man kann das Argument der Übersicht halber in drei Unterabteilungen gliedern. Der erste Abschnitt ist wie folgt zusammenzufassen:
(i) Es gibt Schönes und Hässliches. Diese sind einander entgegengesetzt. Ebenso verhält es sich mit "`allen andern Begriffen"' -- d.h. jede Extension eines Begriffs hat -- mengentheoretisch gesprochen -- ein Komplement, das wiederum die Extension eines entgegengesetzten Begriffs ist. (475e)
(ii) Da Begriffe einander derartig paarweise entgegengesetzt sind, sind es jeweils zwei. (476a)
(iii) Wenn man zwei Gegenstände hat, ist jeder der beiden einer. (476a)
(iv) Daher ist jeder Begriff ein Gegenstand. (476a)
Das erste Zwischenergebnis betrifft also die Natur der Begriffe. Die Schritte (i) und (iii) fungieren hier als Prämissen, für die nicht weiter argumentiert wird. (ii) soll aus aus (i) folgen und (iv) aus (ii) und (iii). Wie sind die einzelnen Schritte nun zu verstehen? Sind die beiden Prämissen plausibel und bestehen die relevanten Folgebeziehungen tatsächlich in der intendierten Weise? Es ist am einfachsten bei der Beantwortung dieser Fragen hinten anzufangen, denn da gibt es kaum Grund zum Zweifel: (iii) ist so analytisch wie man es sich nur wünschen kann, denn ganz abgesehen von seiner intuitiven Einsichtigkeit ist das ein Satz, der unter einer Standardübersetzung schon in der Prädikatenlogik erster Stufe mit Identität beweisbar ist.\footnote{Die einfachste Möglichkeit einer derartigen Übersetzung wäre es, davon auszugehen, dass "`$a$ ist ein Gegenstand"' im klassischen Formalismus plausibel durch die Tautologie $\exists x (a=x)$ repräsentiert wird und "`$a$ und $b$ sind zwei Gegenstände"' durch $\exists x \exists y (x=a \wedge y=b \wedge x\neq y)$. Die resultierende Formel, die dann unserem Satz (iii) entspräche -- $\exists x \exists y (x=a \wedge y=b \wedge x\neq y) \supset \exists x (a=x) \wedge \exists y (b=y)$ --, ist schon ein Theorem, weil eben das Konsequens, die Konjunktion zweier Theoreme, selbst ein Theorem ist. Das bedeutet aber -- jetzt reden wir über die Semantik --, dass selbst in einem Modell in dem der Bereich der Quantoren nur ein Element hat, das Konsequens wahr ist. Also ist "`$a$ ist ein Gegenstand und $b$ ist ein Gegenstand"' auch unter jeder Interpretation wahr, in der $a$ und $b$ eben nicht zwei Gegenstände sind. Das ist soweit alles trivial und wenn man ausführlicher mit dem formalen Apparat weiterargumentieren wollte, müsste man erörtern, inwieweit diese Übersetzungen wirklich gerechtfertigt sind, und ob die klassische Logik mit ihrer Existenzpräsupposition und der "`irrelevanten"' materialen Implikation der natürlichen Sprache gerecht wird. Dann käme man sehr bald zu den technischen Fragen verschiedener alternativer Logiken -- Freie und Relevanzlogik -- für die hier naturgemäß kein Platz ist. Unabhängig davon zeigt uns aber die Art und Weise, in der die Übersetzung beweisbar ist, dass Platon hier möglicherweise den zweiten Schritt vor dem ersten macht, indem er nämlich aus dem Vorhandensein eines Paars auf die Existenz zweier einzelner Dinge schließt -- das elementare Phänomen, das die Mehrzahl erst ermöglicht, ist aber, wie wir sehen, die Einzahl.} Auch dass (iv) tatsächlich aus (ii) und (iii) per Quantorenbeseitigung und modus ponens folgt, dürfte niemand bestreiten. Wirklich problematisch wird es erst bei der Deutung von (i) und dem Übergang von dort zu (ii). Ich habe die Formulierung des Sokrates, dass "`schönes dem häßlichen entgegengesetzt ist"' (475e) rein extensional als Aussage über die vielen schönen und hässlichen Dinge als Mengen gedeutet. Vielleicht ist diese Lesart nicht korrekt, denn wir müssen bedenken, dass das Argument nicht für die Leugner der Ideenlehre bestimmt ist. Es ist also gut möglich, dass Sokrates hier eigentlich sagen will, dass die Schönheit der Hässlichkeit entgegengesetzt ist. Wenn es sich aber so verhält, dann ist der ganze oben rekonstruierte erste Teil des Arguments zirkulär und redundant, denn schon im bestimmten Artikel ist ja ausgesprochen, dass die jeweils bezeichneten Gegenstände einzelne Dinge sind. Das einzige Resultat der ersten vier Schritte wäre dann, dass Schönheit und Hässlichkeit nicht dasselbe sind -- und dieses wäre schon im Schritt (ii) erreicht.
Die extensionale Interpretation bekommt dem Argument allerdings auch nicht viel besser, denn was eben noch zirkulär war, wird nun zu einem non sequitur. Wenn wir über die Gesamtheiten der körperlichen Dinge reden, die schön und hässlich sind und davon ausgehen, dass die Entgegensetzung bedeutet, dass ein Gegenstand genau dann schön ist, wenn er nicht hässlich ist, dann bedeutet unser Satz (ii), solange er aus (i) folgen soll, nicht mehr einen starken platonistischen Universalienrealismus, wie er in der Ideenlehre kodifizert ist -- dass es nämlich Eigenschaften als von den sie exemplifizierenden Dingen völlig unabhängige Gegenstände gibt --, sondern er behauptet nur, dass es bestimmte Mengen von Gegenständen gibt. Und diese sind zwar im Einklang mit der Standardinterpretation der Mengentheorie Objekte eigenen Rechts, aber als solche eben qua Extensionalitätsaxiom genau durch ihre Elemente -- in diesem Fall also die körperlichen Dinge -- definiert. Die Hierarchie wird mithin zugunsten der wahrnehmbaren Dinge umgekehrt.
Noch schlimmer ergeht es dem Argument, wenn wir auch in der Philosophie der Mathematik nominalistisch gesinnt sind und bestreiten, dass Mengen Objekte sind. Dann sagt uns (i) nur noch, dass die schönen Dinge andere sind als die hässlichen. Daraus folgt (ii) aber überhaupt nicht mehr. Nachdem es bis hierher um das Wesen der Begriffe ging, darum, was sie sind, befasst sich der zweite Abschnitt des ersten Arguments nun damit, als was sie erscheinen:
(v) Begriffe sind in der Welt -- in "`körperlichen Dingen und Handlungen"' -- instantiiert. Sie kommen in mehreren Gegenständen "`zum Vorschein"'. (476a)
(vi) Darum erscheinen Begriffe als vieles. (476a)
(v) ist wiederum eine Prämisse, die der Ideenlehre entnommen wird. über die Natur der Instantiierungsrelation werden freilich kaum Worte verloren. Das einzige, was dazu für das Argument wichtig zu sein scheint, ist, dass von den Begriffen angenommen wird, dass sie "`Gemeinschaft"' mit den unter sie fallenden Dingen haben und dass diese Gemeinschaft mit einer Art ähnlichkeitsrelation einhergeht, d.h. ein wahrnehmbares Objekt ist schön genau dann, wenn es in einer bestimmten Hinsicht der Form des Schönen ähnelt.
Der Übergang von dieser Annahme zum Satz (vi) ist auf den ersten Blick nicht unkontrovers, denn man könnte die Frage aufwerfen, warum denn die Tatsache, dass ein bestimmtes Muster vielen anderen Dingen ähnlich ist, dazu führen sollte, dass das Muster selbst als vieles erscheint. Der Schlüssel zum Verständnis dieser Aussage liegt aber in der Hintergrundtheorie der Ideenlehre. Da die Schönheit selbst als abstraktes Objekt ja keine wahrnehmbare Gestalt hat, erscheint sie selbst überhaupt nicht. Von einem schönen Einzelgegenstand ist es aber nur durch Wahrnehmung zu erfahren, dass er schön ist. Die jeweils besonderen "`Schönheiten"' der Einzeldinge sind also wahrnehmbare Qualitäten und weil die Dinge über diese Qualitäten kraft der "`Gemeinschaft"' mit der Form des Schönen verfügen, kann man behaupten, dass diese eben nur dergestalt vermittelt erscheint. Die Erscheinung allerdings ist allen schönen Dingen gleichermaßen eigen, da ist keines privilegiert. Dieser Erklärungsversuch ist sicher nicht vorbildlich klar, weshalb wir mit einiger Erleichterung festhalten können, dass (vi) im weiteren Verlauf des Arguments keine essentielle Rolle mehr spielen wird. Im letzten und entscheidenden Teil des Arguments treten nun die vielbeschworenen Schaulustigen auf und ihr fundamentaler Irrtum wird aufgezeigt:
(vii) Die Schaulustigen lieben die vielerlei schönen Dinge und glauben, dass es sie gibt, leugnen aber die Existenz des einen "`Schönen"'. (476b)
(viii) Wer etwas einem Gegenstand bloß ähnliches für den Gegenstand selbst hält, irrt ("`träumt"'); wer den Unterschied erkennt, erkennt die Wahrheit. (476c)
(ix) Die Schaulustigen halten die Einzeldinge, die den Begriffen, die sie instantiieren, nur ähnlich sind, für die Begriffe selbst. (476c)
(x) Darum haben sie keinerlei Wissen, im Gegensatz zu den Zöglingen der platonischen Ideenlehre, die zwischen Begriff und Einzelding unterscheiden. (476d)
Die neuen Prämissen sind hier die mit (vii) und (viii) bezeichneten Sätze. Der Status von (ix) könnte zur Diskussion stehen -- ich vermute, dass dieser Satz aus (vii) folgen soll, halte das aber für einen sehr wackeligen Schluss. Alternativ könnte man (ix) auch für eine weitere Prämisse halten, diese wäre dann aber sehr ad hoc und kontraintuitiv, außerdem würde dieses Manöver den Schritt (vii) redundant machen. (x) schließlich folgt aus (viii) und (ix). Einmal mehr ist der letzte Schritt der am wenigsten kritikwürdige: Prämisse (viii) ist wiederum analytisch wahr, und niemand, der sich über den Unterschied von Ähnlichkeit und Identität im Klaren ist, kann sie bezweifeln. Der Schluss aus (viii) und (ix) hat ebenfalls seine Berechtigung, das einzige, worüber man hier Zweifel anmelden könnte, ist die Allgemeinheit, die sich in (x) findet, scheinbar wird aus einem Irrtum seitens der Schaulustigen auf deren universelles Nichtwissen geschlossen. Aber das ist kein schweres Problem, denn in (ix) wird ja aufgewiesen, dass die Gegner sich über alle wahrnehmbaren Dinge im Irrtum befinden und deren Wesen verkennen. Da sie aber, solange sie die Existenz aller anderen Dinge leugnen -- und das ist in dieser Diskussion eine definierende Eigenschaft der Schaulustigen --, sich auch über diese schwerwiegend irren, ist dadurch zur Genüge belegt, dass sie grundsätzlich kein Wissen haben. Der für das Argument und jede Kritik daran vermutlich wichtigste Satz ist der, den ich mit (ix) bezeichne. (vii) ist zweifellos eine getreue Wiedergabe der Position der Schaulustigen, bzw. zumindest derer, die man sich nach der Einführung ins Argument unter diesem Namen vorstellt. Der Übergang von dort zu (ix) ist aber überaus zweifelhaft. Es steht (zumindest in diesem Kontext) außer Zweifel, dass die vielen schönen Dinge existieren. Die Schaulustigen leugnen aber die Existenz der Form des Schönen -- warum sollten sie also auch nur in die Verlegenheit geraten, etwas, das es ihnen zufolge gar nicht gibt, mit etwas existierendem zu verwechseln? Doch natürlich ist dieser entscheidende Schritt im Argumentationsgang kein bloßer Taschenspielertrick und man sollte zumindest versuchen, ihn einigermaßen wohlwollend und plausibel zu deuten. Mein Angebot dafür sieht aus wie folgt: Sokrates könnte meinen, dass ein Schaulustiger, würde er nach dem Schönen gefragt, vielleicht antworten würde: "`Ich weiß zwar nicht genau, worauf du hinauswillst, denn es gibt ja mehr als ein schönes Ding, aber wenn wir zum Beispiel nur über den Inhalt eines hypothetischen Zimmers reden wollten, in dem sich nur ein schöner Gegenstand befindet, dann ist in diesem beschränkten Kontext eben genau jenes Objekt das Schöne. Und so können wir uns für alle schönen Sachen eben hypothetische Kontexte ausdenken, in denen jedes einzelne dieser Dinge als das Schöne auftritt. Daher sind alle schönen Dinge aus irgendeiner theoretisch möglichen Perspektive das Schöne."'
Alternativ könnte der Schaulustige auch sagen, dass das Schöne eben die Gesamtheit der vielen schönen Dinge sei, womit wir wieder bei unserer mengentheoretischen Deutung von Begriffen als Begriffsumfängen angelangt wären. Beide Antworten aber verpflichten den Schaulustigen nicht auf die Position aus dem Satz (ix) und daher ist das Argument auch auf diese Weise nicht effektiv gestärkt. Im ersten Falle würde der Schaulustige eben immer noch über etwas ganz anderes reden als sein platonistischer Opponent, und auf Nachfrage würde er niemals eingestehen, dass er die schönen Dinge in ihren Einzelkontexten als die Idee des Schönen auffasst. Im letzteren Fall würde er eben über eine Gesamtheit vieler konkreter Instanzen reden, diese aber niemals mit einem abstrakten Objekt gemäß der ideentheoretischen Doktrin verwechseln. Auch wenn man die Anfrage an unseren Schaulustigen eindeutiger formulierte -- Was ist die Schönheit --, würde er sich selbst niemals auf (ix) festlegen lassen. Eine mögliche Antwort: "`Die Schönheit dieser Blume ist ihre Farbe und ihr Duft, die Schönheit der Ilias ist die eindrucksvolle Sprache und die trefflichen Schlachtendarstellungen. Ohne weitere Spezifizierung, um welches schöne Objekt es geht, kann ich dir nicht sagen, was die Schönheit sei, weil es sie in einer derartigen Allgemeinheit meiner Überzeugung gemäß eben nicht gibt."' Naturgemäß, was der Schaulustige selbst über seine Weltsicht meint, ist im ersten Argument nicht von entscheidendem Belang und daher können wir in dieser letzteren Antwort eventuell doch den Zusammenhang von (vii) und (ix) finden, den Sokrates und Glaukon behaupten. Ein Platonist würde auf die Frage nach der Schönheit eines jeden beliebigen Gegenstands stets dieselbe Antwort geben: "`Das ist schön, weil es teilhat an der Idee des Schönen."' Die jeweiligen spezifischen Charakteristika der Objekte sind demgemäß nur die Äußerungsformen dieser allgemeinen metaphysischen Relation. Da dieser Doktrin zufolge der Duft der Blume deren Schönheit gerade nicht konstituiert, sondern nur darauf verweist, dass sie in der relevanten Beziehung zu einer bestimmten Idee steht, könnten wir sagen, dass eben hier die falsche Identifizierung des bloß ähnlichen erfolgt: Der Duft ist der Schönheit ähnlich, ebenso wie die Blume, er ist aber nicht das Schöne selbst, wie unser Schaulustiger zumindest in diesem Zusammenhang behaupten würde.
Diese Deutung ist mit Blick auf die fürs Argument nötige logische Folgebeziehung wohl die plausibelste, und wenn wir sie als Platonisten tatsächlich akzeptieren, dann geht das erste Argument durch.
Die erkenntnistheoretischen Grundlagen Natürlich liegt im wohlgesinnten, esoterischen Gespräch mit Gesinnungsgenossen keine universelle Überzeugungskraft, wie sie für die weitere Verbreitung einer Position wünschenswert wäre. Daher entwickelt Sokrates nach dem als "`leicht"' eingeführten ersten Argument ein zweites (476e-479d), in dem auf einen der Ideenlehre skeptisch gegenüberstehenden Gegenspieler abgezielt wird. Dieser dialektische Kontext ist für das Argument und seine Rekonstruktion von grundsätzlicher Bedeutung: "`Wie nun, wenn uns derjenige böse würde, von dem wir sagen, er meine nur, erkenne aber nicht, und wenn er uns bestreiten wollte, daß wir nicht recht redeten: würden wir ihm wohl zuzureden wissen und ihn leise zu überreden ohne ihn merken zu lassen, daß er verwirrt ist?"' (476d-e) Das zweite Argument beginnt also mit einer Beschränkung des argumentativen Arsenals, bzw. der Klasse der Prämissen, die zu verwenden opportun ist. Man kann dem Gegner nicht gleich triumphal mit ihm völlig fremden Grundannahmen begegnen. Es wird nicht so argumentiert: "`Ich vertrete eine bestimmte Metaphysik, diese ist die einzig wahre, und wenn du mir nicht zustimmst, hast du Unrecht!"' Damit machte man sich zweifellos einer petitio principii schuldig. Wir werden im Verlaufe der Rekonstruktion das Argument immer wieder ganz besonders daraufhin befragen müssen, ob die Selbstbeschränkung auch eingehalten wird.
Das Ziel ist, von Prämissen ausgehend, die für einen Schaulustigen, der beansprucht, Wissen zu haben, akzeptabel sind, diesen seinen Anspruch ad absurdum zu führen und ihn dergestalt zu widerlegen. Glaukon bekommt dabei temporär die Aufgabe zugewiesen, Sokrates im Sinne eines solchen Gegners zu antworten. In dieser Abteilung geht es zunächst um die epistemologische Fundierung, die ein Argument, das hauptsächlich mit den Begriffen des Wissens und der Meinung operiert, nicht entbehren kann. Da die Erkenntnistheorie, die Sokrates darlegt, Wissen und Meinung als Vermögen klassifizert und auf bestimmten Lehren ebenjene Vermögen betreffend beruht, werde ich zunächst diese Basis der epistemologischen Basistheorie erörtern.
Sokrates erklärt, dass Vermögen -- als Beispiele werden das Gesicht und das Gehör angeführt -- eine bestimmte Unterklasse des Seienden bilden; gemeint ist damit dasjenige, "`wodurch sowohl wir vermögen, was wir vermögen, als auch jegliches andere was etwas vermag"'. (477c) Natürlich könnte ein strenger Nominalist hier schon einwenden, dass wir uns damit auf eine überflüssige Substantivierung einlassen und so die Vermögen ungerechtfertigterweise reifizieren. Schließlich ist es eine nicht-triviale metaphysische Annahme, dass es etwas geben muss, ein Seiendes, durch das wir vermögen, was wir eben vermögen. Könnte man nicht genauso gut sagen, dass manche Dinge einfach derartig beschaffen sind, dass sie das eine oder andere vermögen; brauchen Möglichkeiten ein steinernes ontologisches Fundament? Damit ist schon der erste Punkt erreicht, an dem das Argument seinen Anspruch der Annehmbarkeit für Schaulustige nicht ganz lupenrein erfüllt, doch auf diesen Nebenkriegsschauplatz sei hier nur angespielt.
Die nächste Feststellung betrifft die Individuationsbedingungen von Vermögen. Viele Eigenschaften, die Dinge haben können, passen kategorial nicht zu den Vermögen: das Gehör hat, zumindest wenn man es im platonischen Sinne nicht als einen bestimmten Komplex von Organen betrachtet, keine Farbe. Daher können sie nicht an solchen wahrnehmbaren Qualitäten unterschieden werden. Für die Identität und Verschiedenheit von Vermögen ist laut Sokrates einzig relevant "`worauf es sich bezieht und was es bewirkt"'. (477d) Das heißt, wenn man es mit Vermögen zu tun hat, muss man (a) nach dem Anwendungsbereich fragen -- den Objekten, mit denen jemand oder etwas kraft des Vermögens interagieren kann, und (b) nach der Wirkungsweise -- was und wie jemand oder etwas dadurch vermag. Diesbezüglich stellt Sokrates die These auf, dass Vermögen genau dann identisch sind, wenn sie in (a) und (b) übereinstimmen, dass aber verschiedene Vermögen genau dann vorliegen, wenn sie sich in beiden Aspekten unterscheiden. Diese Definition ist in genau dieser Formulierung von herausragender Wichtigkeit für den weiteren Verlauf des Arguments. Sokrates erwähnt nicht die beiden zumindest theoretisch noch denkbaren Alternativen, nämlich dass Vermögen auch in (a) übereinstimmen und in (b) voneinander abweichen könnten oder umgekehrt. Dass diese beiden Konstellationen nicht einmal angesprochen werden, mag zunächst rätselhaft wirken, wenn man dann aber sieht, wie in (478a) aus der Feststellung, dass Wissen und Glauben sich in (b) unterscheiden, gefolgert wird, dass sie auch in (a) nicht übereinstimmen können, dann bleibt kein Raum für Zweifel, dass Sokrates für das epistemologische Argument voraussetzen muss, dass die beiden übergangenen Kombinationen der Aspekte (a) und (b) unmöglich sind.
Die Arbeit des wohlwollenden Interpreten wäre es nun, eine Deutung dieser Grundannahme zu liefern, die das Argument vor dem Vorwurf der Voreiligkeit und mangelnden Sorgfalt rettet. Ich tue mich damit schwer. Die eine Kombination -- dass es zwei verschiedene Vermögen geben kann, die auf verschiedene Dinge angewendet werden, aber in der Wirkung übereinstimmen -- ausschließen zu wollen, erscheint mir noch eine nachvollziehbare Intuition zu sein. Aber selbst da liegen vermeintliche Gegenbeispiele nahe: das Gesicht und das Gehör sind offenbar verschiedene Vermögen. Das Gesicht nimmt Licht eines bestimmten Spektrums auf, das Gehör arbeitet mit Schallwellen bestimmter Wellenlänge, aber ist das, was sie mit diesen Informationen tun, nicht dasselbe? Sie verarbeiten sie zu elektrischen Impulsen im Gehirn. Man könnte jetzt einwenden, dass die beiden Anwendungsbereiche einfach aus so grundverschiedenen Phänomenen bestehen, dass man damit gar nicht dasselbe machen kann, dass es hier allerhöchstens sinnvoll wäre, von Analogien in der Wirkung zu reden, oder dass die Endresultate der beiden Vermögen als Qualia stark voneinander abweichen und dort der entscheidende Unterschied liegt. Ich kann hier aber keiner der beiden Seiten entschieden zuneigen.
Noch zweifelhafter wird es bei der Annahme, dass es nicht verschiedene Vermögen geben soll, die auf dieselben Objekte in unterschiedlicher Weise einwirken. Eine so starke These ist ja nicht unbedingt selbstevident und könnte daher zumindest den Ansatz eines Arguments vertragen, besonders, da es ja immer noch darum geht, jemand zu überzeugen, der viele platonische Lehren nicht glaubt. Dass Platon davon nicht einmal spricht, muss man ihm auf jeden Fall vorhalten: entweder es war ihm selbst nicht bewusst, welch gewichtigen Schritt er übersehen hat, oder er macht dem Leser absichtlich das Leben schwer. Selbst wenn man daran scheitert, hundertprozentig plausible Gegenbeispiele zu liefern, ist der Punkt in seiner Allgemeinheit und vorgeblichen Notwendigkeit (478a) noch längst nicht etabliert. Ich bin also von den beiden folgenden Anwendungsfällen nicht völlig überzeugt, aber sie liefern zumindest die Spur eines Arguments, wohingegen für die gegenteilige Auffassung nichts dergleichen in Sicht ist. Was soll man also sagen zu den Vermögen der friedlichen und der kriegerischen Nutzung der Kernenergie? Sind die nicht auf dieselben Objekte bezogen -- Mengen von spaltbarem Material -- und unterscheiden sie sich nicht in der Weise, wie mit den Objekten umgegangen wird? Ich denke sie unterscheiden sich durchaus -- und das nicht einfach so, sondern in welthistorisch relevanter Weise. Oder ganz ähnlich die Bücherleidenschaft des Bibliophilen, der sich an Erstausgaben aus dem achtzehnten Jahrhundert und Goldschnitt ergötzt einerseits, und die des an Büchern ausschließlich wegen deren Inhalt Interessierten andererseits. Ich sehe hier keine Möglichkeit, die Übereinstimmungen in (a) oder die Unterschiede in (b) wegzudefinieren, die nicht komplett ad hoc wäre.
Wenden wir uns aber nun den beiden Vermögen zu, die uns besonders interessieren: Erkenntnis und Vorstellung. Der eigentlich epistemologische Anteil des zweiten Arguments findet sich in zwei Blöcken (476e-477b und 477e-478d), die nur durch die von mir vorgezogenen Erwägungen über Vermögen getrennt werden. Ich gebe wieder eine kompakte Rekonstruktion, wobei ich eine Zweiteilung vornehme. Der erste Teil des Arguments gibt einen allgemeinen Rahmen mit den Begriffen Erkenntnis, Unwissen und Sein:
(i) Wer erkennt, erkennt etwas Seiendes. (476e)
(ii) Das vollkommen Seiende (Abkürzung im Folgenden: $\omega$-Seiendes etc.) ist vollkommen erkennbar, das $\omega$-nicht-Seiende ist $\omega$-unerkennbar. (477a)
(iii) Wenn es etwas gibt, das ist und nicht ist, muss es zwischen $\omega$-Seiendem und $\omega$-nicht-Seiendem liegen. (477a)
(iv) Wenn es etwas gibt, das ist und nicht ist, muss ihm ein Vermögen zwischen Erkenntnis und Unwissen zugeordnet werden. (477b)
Über die besonderen Interpretationsschwierigkeiten, die hier mit dem Seinsbegriff einhergehen, werde ich mich in der Abteilung noch äußern, in der es um die Metaphysik des Arguments geht. Die Pointe hier ist es zunächst, zu etablieren, dass es eine Polarität zwischen Erkennen und Unwissen gibt, die die von Sein und Nicht-Sein gewissermaßen spiegelt, und dass falls es im Hinblick auf das Sein Abstufungen gibt, die sich auch bei den zugeordneten Vermögen wiederfinden sollen.
Der Weg dahin beginnt in der Prämisse (i), in der ich eigentlich zwei Schritte zusammengefasst habe. Der erste davon beinhaltet nur die Gerichtetheit der Erkenntnis auf etwas, im zweiten wird verlangt, dass es sich dabei um etwas Seiendes handeln muss. Die beiden Schritte kann man verschiedentlich deuten. Ich will auf zwei Ansätze verweisen: (a) Die "`traditionelle"'\footnote{Diese Terminologie übernehme ich aus \cite[S.305]{white92}.} Interpretation besagt, dass mit dem notwendigen "`etwas"' des Erkennens ein Objekt gemeint ist bzw. eine Klasse von Objekten und dass diese sodann durch die Forderung nach dem Sein -- als Existenz verstanden -- eingeschränkt wird. Also nur (in einem bestimmten technischen Gebrauch, der unten weiter zu explizieren sein wird) existierende Gegenstände können erkannt werden. (b) Eine alternative Konzeption wird in \cite{fine78} entwickelt: demgemäß bedeutet die Gerichtetheit der Erkenntnis auf etwas lediglich die Notwendigkeit, dass Erkenntnis einen Gehalt haben muss, der nötige Bezug ginge also nicht unbedingt auf einfache Gegenstände sondern auf komplexe Entitäten, die etwa die Rolle von Propositionen oder Sachverhalten spielen könnten. Die Einschränkung auf Seiendes versteht Fine ("`veridisch"') als den Ausschluss aller falschen Gehalte vom Erkennen.
Einen merkwürdigen Status genießen die $\omega$-Zustände und -Vermögen in (ii) und (iii), vor allem, weil sie danach einfach fallengelassen werden. In (iv) müsste ja folgerichtigerweise weiter von $\omega$-Erkenntnis etc. die Rede sein, und das würde sich auch auf den unten zu erörternden zweiten Abschnitt des Arguments auswirken. Ich bin mir über die Bedeutung dieser Tatsache nicht ganz im Klaren, vermute aber, dass, wo im folgenden von Erkenntnis simpliciter die Rede ist, von Platon eigentlich die $\omega$-Erscheinungsform gemeint ist, für die er mit (ii) und (iii) nur den Blick schärfen wollte; eventuelle Mischformen von Erkennen und Unwissen werden so zwar nicht ausgeschlossen, aber auch nicht explizit zur Diskussion gestellt. Die Vorstellung, die später diskutiert wird, könnte man ja als eine solche Mischung charakterisieren -- für den Zustand zwischen $\omega$-Sein und $\omega$-nicht-Sein, der dieser zugeordnet wird, wird schließlich auch kein eigener Terminus angegeben --, doch ich vermute, dass Platon dies vermeidet, um auf diese Weise seiner rigiden Vermögenstheorie nicht ins Gehege zu kommen, denn für Mischungen von Vermögen bietet die prima facie ja keinen Raum. Im zweiten Teil des Arguments wird nun erwiesen, dass ein Vermögen in der Mitte zwischen Erkennen und Unwissen existiert.
(v) Erkenntnis und Vorstellung sind Vermögen. Erstere ist unfehlbar, letztere fehlbar. D.h. sie unterscheiden sich in ihrer Wirkungsweise. (477e)
(vi) Vorstellung ist auf etwas gerichtet, aber auf einen anderen Gegenstandsbereich als Erkenntnis. (478a)
(vii) Vorstellung richtet sich weder auf das Seiende noch auf das nicht-Seiende. (478b-c)
(viii) Vorstellung liegt nicht "`außerhalb"' des Gegensatzpaars Erkenntnis-Unwissen, weil sie die Erkenntnis nicht an Sicherheit und das Unwissen nicht an Unsicherheit übertrifft, aber sicherer ist als das Unwissen und unsicherer als die Erkenntnis. (478c)
(ix) Sie liegt zwischen diesen beiden Polen. (478d)
Damit bleibt für den metaphysischen Teil des Arguments nur noch, die in (iv) spezifizierte Bedingung als erfüllt zu belegen, d.h. den besonderen Gegenstandsbereich der Vorstellung zwischen Sein und Nicht-Sein als vorhanden aufzuzeigen und zu charakterisieren. Im Schritt (v) wird festgestellt, dass sich die zwei angesprochenen Vermögen in einem der Aspekte, von denen oben die Rede war, unterscheiden: die Wirkung eines unfehlbaren muss von der eines fehlbaren Vermögens verschieden sein. Darauf folgt der schon angedeutete äußerst problematische Schachzug, der den Übergang zur Verschiedenheit der Anwendungsbereiche in (vi) mit sich bringt. Der Rest des Arguments sieht dann aber unproblematisch aus. Aus (vi) wird (vii) gefolgert, indem das Seiende als Gegenstandsbereich der Vorstellung durch die Verschiedenheit vom Erkennen ausgeschlossen wird, das Nicht-Seiende aber durch die Forderung eines etwas. Denn dem Argument zufolge ist das nicht-Seiende nichts.
In (viii) wird dann mit einer neu hinzukommenden aber doch intuitiv annehmbaren Hierarchie von Sicher/Unsicher bzw. Hell/Dunkel der Vermögen untereinander gearbeitet und damit die Vorstellung in die Mitte zwischen Wissen und Unwissen verwiesen (ix).
Die metaphysische Komponente
Der Anteil des Arguments, der die Metaphysik betrifft, arbeitet vor allem mit dem Begriff Sein. Daher will ich zunächst zu erhellen versuchen, wie der genau an den entsprechenden Stellen verwendet wird. Die interessanteste Frage in dieser Richtung, die sich bisher ergeben hat, ist mit Sicherheit die, wie es zu verstehen sei, dass nur das Seiende erkennbar ist. Die anfängliche Argumentation für diesen Punkt ist ja noch recht einfach zu akzeptieren, aber da in deren weiterem Verlauf die Rede ist von Dingen, die sind und nicht sind bzw. zwischen Sein und nicht-Sein liegen, drängt sich schon ein Gedanke auf: so ganz scheint Platons Seinsbegriff nicht Äquivalent einem modernen Begriff von Existenz zu sein.
Was nun das $\omega$-Seiende, den wahrhaften Gegenstandsbereich der Erkenntnis anbelangt, so ist der Text nicht gerade großzügig und man muss sich an einer Charakterisierung ex negativo versuchen. Aus der Art und Weise, wie später (siehe unten) über die körperlichen Einzeldinge geredet wird, um sie als nicht $\omega$-seiend zu erweisen, kann man relativ sicher schlussfolgern, dass Platon letztlich nur die Ideen, Begriffe, Abstraktionen, die er als Kontrastmaterial verwendet, für wahrhaft seiend, d.h. frei von Nicht-Sein, hält. Und damit hätten wir wieder einen Teil der "`traditionellen"' Interpretation des Arguments ausbuchstabiert: nur von Ideen ist Wissen überhaupt möglich.
Eine Schwierigkeit damit ist, dass es ein langer Weg ist von der tautologischen Erwägung, dass, wer erkennt, auch etwas erkennen muss, bis hierher, und dass dieser, was die Annehmbarkeit für Schaulustige angeht, sicher nicht über jeden Zweifel erhaben ist.\footnote{In Literatur zur Relevanzlogik ist manchmal von einer rule of no funny business die Rede. Unser Schaulustiger könnte genau deren Verletzung beklagen.} Diese Überlegung ist die entscheidende Motivation für den Vorschlag aus \cite{fine78}, ein wenig ontologische Luft aus dem epistemischen Argument herauszulassen. Fine lehnt eine Objektanalyse der platonischen Erkenntnistheorie ab. Für sie zielen Wissen und Meinung nicht auf verschiedene Klassen von Gegenständen, sondern sie sind auf unterschiedliche Gehalte anwendbar: Erkenntnis kann nur einen wahren Gehalt haben, Meinung dagegen ist gegenüber dem Wahrheitswert ihres Gehalts indifferent. Das Seiende, auf das sich Erkenntnis richtet, ist also nach dieser alternativen Interpretation einfach das Wahre.
Wie schon oben angedeutet, wird in der erkenntnistheoretischen Abteilung teilweise ein Verständnis von Sein als gradueller Angelegenheit nahegelegt, die zwischen den beiden $\omega$-Polen auch verschiedene Mischzustände zwischen Sein und Nicht-Sein zulässt. Und selbst wenn man das ganz sparsam deutet und die "`Seins-Skala"' um nur einen Zustand zwischen Sein und Nicht-Sein erweitert, bleibt das eine Konzeption, die einem heutigen Standardverständnis von Existenz recht stark zuwiderläuft. Man kann im Angesicht dieser Schwierigkeit auch die Frage aufwerfen, ob "`Sein"' an dieser Stelle überhaupt im existentiellen Sinne verwendet wird, denn Platon scheint zwischen den verschiedenen Bedeutungen dieses Hilfsverbs recht sorglos hin- und herzuwechseln. Im metaphysischen Argument spielt z.B. der Übergang vom prädikativen "`$x$ ist $F$"' zum existentiellen "`$x$ ist"' eine zentrale Rolle. Eine dritte Bedeutung, die in der heutigen Zeit weniger geläufig sein dürfte, ist die, die \cite{fine78} präferiert: das "`veridische"' ist. Demgemäß bedeutet, etwas zu erkennen, das ist, dass man etwas Wahres erkennt. Die Schwierigkeit dabei ist, dass man entweder auf eine graduelle Theorie von Wahrheit verpflichtet wird, oder wie Fine selbst die Rede vom $\omega$-Seienden und dem zwischen Sein und Nicht-Sein Liegenden radikal revisionär interpretieren muss. Sie versteht nämlich wie gesagt das Seiende, auf das die Erkenntnis gerichtet ist, als die Menge aller wahren Propositionen, wohingegen die Vorstellung -- sie ist bekanntlich gerichtet auf das, was ist und nicht ist -- sich auf die Menge aller Propositionen bezieht, wahre wie falsche. Aber einander derartig überschneidende Gegenstandsbereiche scheinen sich nicht sehr gut mit der Vermögenstheorie zu vertragen. Außerdem ist es in dem Argument bis zur metaphysischen Abteilung ja unausgemacht, ob es überhaupt etwas gibt, das sich in der Mitte zwischen Sein und Nicht-Sein befindet, was also der eigentümliche Gegenstandsbereich der Vorstellung sein mag. Wenn dies wie nach Fines Lesart naheliegend, nur eine Obermenge des bereits Erkennbaren wäre, dann sollte diese Suche doch eigentlich nicht soviel Raum einnehmen.
Überhaupt scheint mir die metaphysische Abteilung des Arguments völlig in der Luft zu hängen, wenn Fine recht hat, denn dort ist ja ausdrücklich von den Objekten, die sowohl sind als auch nicht sind, die Rede. Doch wenden wir uns für weitere Überlegungen wieder dem Argument selbst zu.
(i) Alle der vielen Einzeldinge, die $F$ sind, erscheinen auch in irgendeiner Hinsicht als nicht-$F$. (479a)
(ii) Keines der vielen Dinge ist mehr $F$ als nicht-$F$, noch beides, noch keins von beidem. (479b-c)
(iii) Die vielen Einzeldinge liegen zwischen Sein und Nicht-Sein. (479d)
In dieser Phase des Arguments habe ich keinen Grund, irgendeinen der Schritte als unproblematisch oder analytisch wahr zu bezeichnen. Die Schwierigkeiten fangen schon bei der Prämisse (i) an. Es findet sich kein wirkliches Argument dafür im Text, das einzige, was offenbar in eine solche Richtung gehen soll ist das undurchschaubare Gleichnis mit dem Verweis auf "`kindische Rätsel"' (479b). Dort ist aber keine substantielle Begründung zu finden. Fragen wir also unabhängig davon -- wie könnte man eine plausible Erklärung dafür geben. Und für wie akzeptabel könnte die dem schaulustigen Opponenten gelten?
Einerseits könnte man den Fokus auf die Hinsichten legen und das ganz weit interpretieren: Achill mag unverwundbar sein, aber er hat auch eine kleine, (fast) unerhebliche Stelle, an der er nicht-unverwundbar ist\footnote{Das Beispiel ist natürlich nicht das glücklichste, aber es sollte anschaulich genug sein.}; Helena mag vor dem trojanischen Krieg schön sein -- wenn sie nach Hause zurückkehrt, ist sie es vielleicht nicht mehr. Die Möglichkeit verschiedener Aspekte der Betrachtung und die Veränderung im Verlauf der Zeit, der konkrete Objekte exklusiv unterworfen sind, könnten also für die Annahme des Punktes (i) sprechen. Aber sind das nicht beides kontingente Tatsachen? Würde ein wahrnehmbarer Gegenstand, der in irgendeiner Weise makellos $F$ ist, oder einer, der sich überhaupt nicht veränderte, den Punkt widerlegen? Platon würde das sicher ausschließen wollen.
Darum könnte eine allgemeinere Interpretation auf die notwendige Unvollkommenheit auch solcher Objekte verweisen: Alles, was $F$ ist, ist auch nicht-$F$, weil es eben noch unzählige andere Eigenschaften $G,H$\dots haben muss -- eine bestimmte raumzeitliche Ausdehnung, Masse usw. beispielsweise. Damit etwas definitiv nicht nicht-$F$ ist, darf es eben nur $F$ sein. Doch auch das ist keine optimale Begründung für (ii.), denn natürlich hätte auch die Idee der $F$-heit noch andere Eigenschaften: ein abstrakter Gegenstand zu sein, von Philosophen erkannt zu werden etc. Der Schritt zu Satz (ii) ist ein großer, denn jetzt wird davon, dass Dinge so und so erscheinen, darauf geschlossen, dass sie auch so sind. Man könnte mit einigem Recht die Frage aufwerfen, ob Platon sich damit nicht selbst der im ersten Argument angeprangerten Verwechslung des bloß Ähnlichen mit dem Identischen schuldig macht. Doch das ist nicht das einzige Problem bei diesem Übergang, denn jetzt wird auch noch jegliche Grad-Abstufung, die es vielleicht bei Eigenschaften geben könnte, eingeebnet. Achill ist laut (ii) gleichermaßen verwundbar wie unverwundbar, obwohl man es gewiss sinnvoller ist, zu sagen, dass man ihm an 98\% seiner Körperoberfläche nichts anhaben kann. Freilich, als sie ihn schließlich erwischt haben, half ihm das auch nicht mehr, aber ist es nicht sehr voreilig, sich mit der völligen Indifferenz zufriedenzugeben?
Beim Schluss auf (iii) wird nun wieder von einem "`ist"' zum andern gesprungen. Weil die Dinge $F$-sind und nicht-$F$-sind, sagt Sokrates, dass sie sowohl sind als auch nicht-sind. Dann wird ganz analog zu einem früheren Manöver erklärt, dass sie nicht "`heller"' sind als das Seiende, aber auch nicht "`dunkler"' als das Nicht-Seiende, und dass sie folglich zwischen diesen beiden Polen liegen: alle konkreten, wahrnehmbaren, körperlichen Einzelobjekte in der Welt sind und sind nicht, von ihnen gibt es mithin keinerlei Wissen sondern ausschließlich Meinungen. Damit ist auch das Ziel des metaphysischen Abschnitts erreicht und der im epistemologischen Teil noch hypothetisch behandelte spezielle Gegenstandsbereich der Vorstellung ist aufgezeigt.
Die metaphilosophische Pointe Jetzt gilt es, die losen Enden zusammenzunehmen und zum eigentlichen Ziel des Arguments zurückzukehren: Wie kann man Philosophen von anderen unterscheiden?
Gehen wir noch einmal ganz zum Anfang zurück: Philosophen sind solche, die die Weisheit und die Erkenntnis lieben. (475b) Wer aber etwas liebt, der liebt es in seiner vollen Gänze und in allen seinen Erscheinungsformen. (474c-475b) D.h. wir wissen schon einmal, dass, wer wählerisch in Kenntnissen ist und z.B. bei seiner Ausbildung bevor er überhaupt weiß, wovon er redet, nur fragt, was ihm das Wissen einmal nutzen kann, kein Philosoph ist. (475c) Den Schaulustigen aber ist das Wählerisch-Sein ebenfalls fremd, sie gehen aus Schaulust zu Dionysien und Ähnlichem und es "`macht ihnen Freude, etwas zu erfahren"'. (475d) Warum sind diese ebenfalls nicht als Philosophen zu betrachten? Die Antwort darauf ist jetzt leicht als Zusammenfassung zu geben. Die Schaulustigen interessieren sich für die schönen Einzeldinge in der Welt. Wenn jemand daherkäme und sie belehren wollte, dass es neben den schönen Dingen auch noch eine Schönheit gebe, durch die all die schöne Dinge überhaupt erst schön sind, würden sie ihm nicht glauben und vermutlich auch nicht lange zuhören, weil sie, statt sich über solche abstrakten Gedankengänge den Kopf zu zerbrechen, lieber weitergehen und sich an mehr schönen Dingen erfreuen möchten. Da es aber von den wahrnehmbaren Gegenständen keine Erkenntnis, sondern nur Meinung bzw. Vorstellung geben kann, und der Schaulustige sich standhaft jeder wahrhaften Erkenntnis über die Welt der Ideen verweigert, liebt er nicht das Wissen, sondern sondern nur die Meinungen. Auch er ist also kein Philosoph.