Zweite Kammern als Vetospieler im legislativen Prozess
Im Zuge der zunehmenden Umsetzung der Idee der Volkssouveränität wurden politische Systeme etabliert, die ehemals autonome Staaten, Provinzen, Gemeinden und Bevölkerungsschichten zu einem gemeinsamen Gebilde verschmelzen ließen[1]. Die einzelnen Bestandteile dieses als föderal[2] bezeichneten Gesamtsystems verloren durch diesen Prozess ihre Souveränität.
Da dies vor allem die Legitimation des gesamten föderalen Konstrukts gefährdete, mussten die einzelnen Gliedstaaten beziehungsweise Bevölkerungsgruppen an der politischen Willensbildung beteiligt werden. Gleichzeitig sollte ihnen somit die Möglichkeit der Artikulation eigener Interessen gegeben werden. Umgesetzt und zugleich institutionell verankert wurde diese Beteiligung der einzelnen Glieder eines föderalen Systems durch die Schaffung sogenannter Zweiter Kammern.
Neben dieser wichtigen Funktion der Integration verstehen sich Zweite Kammern häufig auch als „Instanzen der Mäßigung“[3], als „objektive Kontrolleure“[4], die die Gesetzgebungsarbeit des Bundesparlamentes überwachen und gegebenenfalls korrigierend eingreifen können[5].
Aufgrund dieser wichtigen Funktion kommt es in einem föderalen Mehrebenensystem[6] zwangsläufig zu einer Form von „verflochtener Politik“[7], schließlich erzeugen Zweite Kammern stets Überkreuzungen im politischen Handeln der einzelnen Akteure. Ist ein Akteur, ein Parlament oder eine Regierung nicht in der Lage, allein politische Entscheidungen zu treffen, da dies die Zustimmung beziehungsweise Ablehnung anderer Akteure, Parlamente oder Regierungen bedarf, so ist auch die Möglichkeit gegeben, dass diese anderen Spieler im politischen Geschehen über die Macht verfügen, Entscheidungen zu verhindern, seien sie nun durch jeweils andere Akteure oder gemeinsam zustande gekommen[8]. Versteht man Zweite Kammern nun als Akteure, ohne deren Zustimmung keine Entscheidung möglich ist, sind sie dem Politikwissenschaftler Arthur Benz zufolge als sogenannte „Vetospieler“ zu kennzeichnen[9].
Laut der Vetospielertheorie[10] sind Zweite Kammern somit in der Lage, politische Entscheidungen zu blockieren oder zumindest eine Konsensbildung zwischen den an der Entscheidung beteiligten Arenen zu erzwingen. Dementsprechend stellt Arthur Benz folgerichtig dar, dass „nicht allein die institutionelle Macht von Vetospielern, sondern auch ihr strategisches Handeln für den Erfolg oder das Scheitern von Politik verantwortlich sind“[11]. Die Ausprägung dieses Blockadepotentials von Länderkammern ist jedoch wiederum abhängig von verschiedenen Faktoren, auf die im Folgenden eingegangen wird.
Da föderale Systeme stets in der Verfassung eines Staates verankert sind[12], ist die Macht der Blockade durch Zweite Kammern nicht unbegrenzt. Verfassungen bestimmen neben der Zusammensetzung und der Stellung der Zweiten Kammer in der Entscheidungsfindung auch deren Möglichkeiten der Blockade. Aus diesem Grund kann das Blockadepotential, beziehungsweise die Art der Blockade, stets durch verfassungsrechtliche Bestimmungen begrenzt oder in einigen Fällen gar verhindert werden.
Einen weiteren Faktor, der einen Einfluss auf das Blockadepotential von Zweiten Kammern in einem politischen System hat, bildet der Grad der sogenannten Politikverflechtung.
Laut Fritz W. Scharpf birgt nur der kooperative Föderalismus die Gefahr dieser Politikverflechtung. Durch die Beteiligung der Gliedstaaten an der Gesetzgebung des Bundes, zumeist realisiert durch die Existenz Zweiter Kammern, kommt es laut Scharpfs Theorie im politischen Entscheidungsprozess zu einer starken Zunahme zum Teil widersprüchlicher Interessen[13]. Die beteiligten Akteure streben dabei nach dem größten Gewinn für die Ebene, die sie vertreten und verfolgen daher nur „in zweiter Linie [...] die gemeinschaftliche [...] Lösung von Problemen“[14]. Da Entscheidungen somit nur durch den Verzicht eines Akteurs auf Autonomie oder Ressourcen durchsetzbar werden, birgt die Politikverflechtung eine hohe Blockadeanfälligkeit. Schließlich ist keiner der an der Entscheidung Beteiligten bereit, freiwillig von seinen Zielen abzuweichen und dadurch beispielsweise seine Wiederwahl zu gefährden[15].
Scharpf machte jedoch auch deutlich, dass die alleinige Existenz der Politikverflechtung nicht automatisch zu einer vollkommenen Blockade der politischen Prozesse führt. Vielmehr ist die aus der Verflechtung resultierende Blockade eine „institutionell angelegte Gefahr“[16], die sich zum einen durch strategisches Handeln der Akteure eingrenzen oder verhindern lässt, zum anderen von den Charakteristika der jeweiligen Mehrebenensysteme abhängig ist[17]. Diese speziellen Eigenschaften, die die oben dargestellten Bedingungsfaktoren beeinflussen können, sind systemspezifisch und können daher nicht verallgemeinert dargestellt werden. An dieser Stelle soll jedoch auf die Existenz dieser strukturellen Besonderheiten und auf die durch sie vorhandene Möglichkeit der Beeinflussung der Politikblockade durch Zweite Kammern verwiesen werden.
Ein dritter Bedingungsfaktor, der die Fähigkeit zur Blockade einschränkt beziehungsweise erweitert, ist der eigentliche Entscheidungsvorschlag (Agenda), über den die Zweite Kammer abstimmen muss. Dabei ist es entscheidend, ob eine Agenda ausschließlich mit Zustimmung der Zweiten Kammer durchgesetzt werden kann, oder ob es Wege gibt, diese Blockade entweder zu minimieren oder ganz zu umgehen. Ist ersteres der Fall müssen die Akteure zwangsläufig in Verhandlungen treten, eine Blockade ist ansonsten unumgänglich. Ist jedoch letzteres der Fall, ist es möglich, das Blockadepotential der Zweiten Kammer durch strategisches Vorgehen und wenn es die verfassungsrechtlichen Bestimmungen nicht anders vorschreiben, oder die Agenda ohne Beteiligung der Zweiten Kammer ausgearbeitet wird[18], einzuschränken. Dies kann auf mehrere Arten geschehen. So können diese Akteure in der Phase des Agenda-Settings bereits darauf achten, bestimmte Entscheidungen, die eine für die Zweite Kammer negative Änderung des Status Quo herbeiführen würde, von vornherein mit positiven Effekten, wie zum Beispiel Vergünstigungen in anderen Bereichen zu verknüpfen. Möglich wäre auch, den Verhandlungsgegenstand so zu definieren, dass er verfassungsrechtlich nicht oder, nur mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit, durch die Zweite Kammer blockiert werden kann[19]. Auf der anderen Seite ist es aber auch möglich, eine Agenda, die normalerweise keiner Zustimmung durch die Zweite Kammer bedarf durch das Hinzufügen bestimmter Merkmale in den Zuständigkeitsbereich der Zweiten Kammer fallen zu lassen. Aufgrund der damit hervorgerufenen Möglichkeit des Scheiterns des eigenen Gesetzesvorhabens ist es jedoch sehr unwahrscheinlich, dass ein gesetzgebender Akteur diesen Schritt vollzieht.
[1] Schüttemeyer, Suzanne S.; Sturm, Roland: Wozu Zweite Kammern? Zur Repräsentation und Funktionalität Zweiter Kammern in westlichen Demokratien, S. 517. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Jg. 23 (November 1992), Heft 3, S. 517-536.
[2] Zweite Kammern kommen darüber hinaus auch in nicht-föderalen Systemen vor, so zum Beispiel Großbritannien, wo das House of Lords allein der Ständerepräsentation dient. Vgl. dazu: ebd., S. 520-524.
[3] Siehe: ebd., S. 519.
[4] Siehe: ebd., S. 519.
[5] Vgl. Sturm, Roland: Föderalismus. Eine Einführung, Baden-Baden 2010, S. 61.
[6] Benz nutzt diesen Begriff zur Beschreibung eines föderalen Systems, da dieses analytisch betrachtet aus mehreren Ebene, beispielsweise der Bundes- bzw. Landesebene besteht.
[7] Siehe: Benz, Arthur: Politik in Mehrebenensystemen, Wiesbaden 2009, S. 52.
[8] Vgl. ebd., S. 53.
[9] Vgl. ebd., S. 53.
[10] Diese Theorie der Vetospieler wurde von Georg Tsebelis entwickelt und später u.a. von Uwe Wagschal weiterentwickelt.
[11] Siehe Benz: Politik in Mehrebenensystemen, S. 54.
[12] Vgl. Sturm: Föderalismus, S. 41.
[13] Vgl. Benz: Politik in Mehrebenensysteme, S. 58.
[14] Siehe: ebd., S. 59.
[15] Vgl. ebd., S. 59.
[16] Vgl. ebd., S. 60.
[17] Besonders zutreffend ist dies für den deutschen Bundesstaat mit seinem Parteienwettbewerb. Siehe dazu den Punkt 4.3 in dieser Arbeit.
[18] Diese dargestellten Zusammenhänge basieren auf den Aussagen von Arthur Benz hinsichtlich der Rolle der Entscheidungsvorschläge. Vgl: Benz: Politik in Mehrebenensystemen, S. 54.
[19] Vgl. ebd., S. 60.