Zwischen Lust und Askese - das schwierige Verhältnis der Deutschen zum Genuss
Zwischen Lust und Askese
Das schwierige Verhältnis der Deutschen zum Genuss
Keuchend bäumt er sich ein letztes Mal auf. Dann versagt der geschundene Körper und die Gewichte rasen krachend in die Lagerung zurück. Ich werfe einen verstohlenen Blick auf meinen Nachbarn, der sich bei seinem Workout an der Brustpresse wohl doch etwas zu viel zugemutet hat.
Zusammengesunken, schweißüberströmt und mit rotvioletter Gesichtsfarbe sitzt er nun da im Würgegriff der Kabelzüge. Und allmählich scheint sich das begehrte Lustgefühl bei ihm einzustellen, von dem hier die Rede sein soll: Der Genuss, ausgelöst durch das Nachlassen des Schmerzes, durch die Entspannung, die auf jede Anstrengung folgt.
Genießen kann man vielerlei. Im Körper jedoch passiert praktisch immer dasselbe. Erfreut sich der Mensch etwa am betörenden Duft einer Rosenblüte, sind es die Moleküle dieses Riechstoffes, die von den entsprechenden Rezeptoren verarbeitet, an den Riechkolben weitergeleitet und im Limbischen System mit früheren Erinnerungen abgeglichen werden. Fällt diese Bewertung positiv aus, wird Acetylcholin ausgeschüttet, was zu einer Erhöhung des Dopaminspiegels führt. Dieser Botenstoff erzeugt schließlich das angenehme Genussgefühl. Doch auch schon mit positiven Gedanken allein kann das körpereigene Belohnungssystem stimuliert werden. Oder aber mit Drogen: Ethanol, Kokain oder Nikotin gelangen über den Blutkreislauf direkt ins Gehirn, wo sie – ohne dass eine vorherige Bewertung stattgefunden hätte – auf den Dopaminstoffwechsel einwirken.
Doch auch wenn die physiologischen Prozesse, durch die das Genussempfinden ausgelöst wird, einigermaßen geklärt sind, behält der Begriff seine schwammigen Konturen. Zu disparat sind die individuellen Vorlieben, zu unterschiedlich die Momente und Situationen, die als genussvoll erlebt werden. Wissenschaftler, die am liebsten mit eindeutig definierten Parametern operieren, machen um solche begrifflichen Allgemeinplätze wie dem Wort Genuss gewöhnlich einen weiten Bogen. Bei der „Großen deutschen Genuss-Studie 2004“ allerdings mussten sie „ran“. Solventer Auftraggeber war das Tabakunternehmen JTI Germany mit Sitz in Köln. Erwartet wurden verwertbare Erkenntnisse über die deutsche Genuss- und Geschmackskultur.
Das methodische Vorgehen, mit dem die Sozialforscher der sumpfigen Begriffsmaterie beizukommen suchten, stand schnell fest: Man entschied sich für eine Clusteranalyse, deren Aufgabe im Prinzip darin besteht, Klassen von Objekten zu finden, die sich ähnlich sind. Das Verfahren hat zwar den Vorteil, dass es immer zu Ergebnissen führt, allerdings bleibt fraglich, ob diese irgendeine Bedeutung haben. Immerhin wurden auf diese Weise vier Genusstypen identifiziert, die in deutschen Landen vertreten sein sollen: der Couchgenießer, der Geschmacksgenießer, der Erlebnis- und der Alltagsgenießer.
Um es kurz zu machen: Der Couchgenießer liegt am liebsten auf dem Sofa und verlässt dieses nur ungern.
Der Geschmacksgenießer verwöhnt sich gern mit kulinarischen Leckerbissen und sucht dafür auch gerne mal ein teures Restaurant auf. „Man gönnt sich ja sonst nichts“ ist sein Motto und Genuss für ihn gleichbedeutend mit Konsum. Der Erlebnisgenießer dagegen ist stets auf der Jagd nach dem besonderen Kick. Seine Freizeit ist gespickt mit Partys und Events aller Art. Ihn reizen Extremsportarten und Freizeitparks. Dafür scheut er weder Kosten noch lange Anfahrtswege. Der Alltagsgenießer schließlich hat von allem etwas: Er ist ein bisschen Couchgenießer, aber insgesamt aktiver und geselliger. Faulenzen allein genügt ihm nicht. Geistige und körperliche Aktivitäten sind ihm gleichermaßen wichtig, dabei ist er aber nicht so anspruchsvoll und fordernd wie der Erlebnisgenießer. Dieser vierte Genießertypus repräsentiert eigentlich alle Zeitgenossen, die sich einer klaren Zuordnung entziehen. Vielleicht wirkt er deshalb so sympathisch und lebensnah.
Doch wem nützt diese Klassifikation eigentlich? Gewährt sie wirklich neue und erhellende Einblicke in die Genusskultur der Deutschen? Wohl kaum. Die vier Genießerprofile bringen lediglich zum Ausdruck, was fast schon eine Binsenweisheit ist: Die Art und Weise nämlich, wie jemand seine Freizeit verbringt, korreliert zuallererst mit Faktoren, die nicht etwa typbedingt sind, sondern vielmehr abhängig von der jeweiligen Lebenssituation.
Nehmen wir die 25-jährige notorische Partygängerin, die kein Event auslässt und als Erlebnisgenießerin par Excellence durchgeht. Zehn Jahre später ist die gleiche Frau vielleicht alleinerziehende Mutter, die sich keinen Babysitter leisten kann und die somit zwangsweise zur Couchgenießerin mutiert. Auch die Vertreter der Klassen „Geschmacksgenießer“ und „Erlebnisgenießer“ finden sich unter Umständen schnell in der deutlich sparsameren Kategorie „Couchgenießer“ wieder, sollten sich ihre Einkommensverhältnisse nachteilig verändern und sowohl Restaurantbesuche als auch ausschweifende Freizeitaktivitäten in weite Ferne rücken. Und diejenigen, die körperlich schwer arbeiten müssen, zieht es nach Feierabend auch schon mal eher auf die Couch als auf die After-Work-Party.
Fazit: Ob die Freizeit auf dem Sofa, vor dem Fernseher, im Chat, auf Partys, im Luxusrestaurant, im Punk- oder Sinfoniekonzert oder auf dem Fußballplatz verbracht wird, hängt zum größten Teil davon ab, über welches Bildungsniveau und welche finanziellen Möglichkeiten jemand verfügt, ob er allein lebt, ob er Kinder hat und wie alt er ist. Doch was ist wirklich neu an dieser Erkenntnis?
Neu ist, dass bei den Deutschen in Sachen Genussfähigkeit wohl doch noch nicht alles verloren ist. Zwar sind sie in der Vergangenheit eher mit Eigenschaften wie Pflichtgefühl, Gründlichkeit und Ordnungsliebe auffällig geworden und können nach wie vor nicht mit dem Savoir-Vivre der Franzosen oder dem Dolce-Vita der Italiener mithalten, aber die Genuss-Studie kann zeigen, dass der deutsche Nationalcharakter so eindimensional nun auch wieder nicht ist. Stichwort Kaffeetrinken: War Deutschland bis vor wenigen Jahren diesbezüglich noch ein Entwicklungsland – man konnte bei der Wahl des Heißgetränks zwischen genau drei Alternativen wählen: Tasse oder Kännchen (für draußen) oder aber Kaffee Hag – so konkurrieren heute Capuccino, Frappuccino, Latte Macchiato, Espresso Macchiato und Milchkaffee munter miteinander.
Optimistisch stimmt auch der Befund, dass 89 % der Deutschen angeben, Genuss sei ihnen wichtig. Allerdings folgt die Einschränkung auf dem Fuße: 81 % können nur dann wirklich unbeschwert genießen, wenn sie vorher etwas geleistet haben. Die Zerrissenheit zwischen Lust und Askese ist dort am größten, wo das protestantische Leistungsideal verwurzelt ist, also im Norden und im Osten Deutschlands. Dort ist man auch der Meinung, dass Genuss etwas mit dem richtigen Maß zu tun hat. Wenn z. B. nur einmal in der Woche Fleisch auf den Tisch kommt, ist der Genuss größer als wenn es jeden Tag Schnitzel gibt. Überhaupt bewerten die Deutschen den Genuss im Überfluss eher skeptisch. Besonders beim Thema Sex gibt man sich prüde: Nur für ganze 12 % der Deutschen erreichen sexuelle Aktivitäten einen der ersten drei Plätze im Ranking der Top-Genüsse.
Durch die Hintertür scheinen sich nun also doch wieder die alten Klischees einzuschleichen: „Genuss ja, aber in Maßen.“ „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.“ Und auch der Spruch „Trautes Heim, Glück allein“ hat offenbar bis heute seine Gültigkeit bewahren können, denn die Deutschen genießen nach wie vor am liebsten in den eigenen vier Wänden. Ein Prosit auf die Gemütlichkeit, auf dieses einzigartige, unübersetzbare Wortgebilde, das als Ursuppe deutschen Genusserlebens bereits im Biedermeier Einzug in die deutsche Seele hielt und seitdem dort sein Unwesen treibt!
Ein kleiner Ausflug in die gemütliche deutsche Vergangenheit sei an dieser Stelle erlaubt: Man betrete ein deutsches Wohnzimmer mit schweren Schrankwänden aus massiver Eiche und symmetrisch auf der Sitzgruppe angeordneten Brokatkissen mit dem obligaten durch energischen Handschlag erzeugten Knick in der Mitte. Ein ganzes Bollwerk von Zierrat und Möbeln wird aufgeboten, um den Bürger gegen das Fremde, Unwägbare und Konflikthafte abzuschotten. Vor den Bedrohungen der Außenwelt schützen mehrlagige Teppichschichten, gemusterte Tapeten, Übergardinen und Wolkenstores aus Tüll sowie von der Decke baumelnde Blumenampeln aus Makramee. Selbst die Decke ist verkleidet mit Styroporkassetten in der Ausführung „Eiche-natur“. Auf einem zierlichen Glastischchen liegt ein liebevoll drapiertes Spitzendeckchen. Darauf wiederum ruht mittig die schwere Kristallvase, aus der sich ein Bouquet aus Stoffrosen erhebt. Im verschnörkelten Rahmen lesen wir die warm-freundliche Aufforderung: „Ein liebes Wort zur rechten Zeit hat verhütet schon manch Herzeleid.“ Im Hintergrund vernehmen wir die Lieder des Musikantenstadls. Auch sie vermitteln Geborgenheit, Idylle und Harmonie in einer ungemütlichen, kalten und bösen Welt.
Möglicherweise entspricht diese etwas rückgewandte Beschreibung eines gemütlichen Interieurs nicht mehr ganz dem Status Quo. Es sei auch selbstkritisch eingeräumt, dass an einigen Stellen genussvoll übertrieben wurde. Aber gerade der Blick auf das Vergangene, auf urdeutsche Wörter wie etwa Gemütlichkeit, Wanderlust, Waldeinsamkeit, Kaffeeklatsch, Frauenzimmer oder Kindergarten lässt eine Art kollektives Unbewusstes zu Tage treten, das zu ergründen sich lohnt, wenn man etwas über die spezifisch deutsche Art des Genießens erfahren will.